Pinguine frieren nicht
Kreschtschatik belebte sich gerade allmählich. Zwei orangene Schneepflüge schoben sich langsam an Viktor vorbei. Die wenigen Passanten blieben vor den Auslagen der teuren Geschäfte stehen und betrachteten müde alles, was sie nicht kaufen konnten.
Seine Beine führten Viktor zum Kellercafé Alt-Kiew, aber das war auch geschlossen. Er kehrte wieder um, schlenderte am Buchladen ›Wissen‹, dann am Zentralen Kaufhaus und am ehemaligen Buchladen ›Freundschaft‹ vorbei. An der Ecke hielt er an und überlegte. Er versuchte sich zu erinnern, wann er zum letzten Mal gelesen hatte [430] und welches Buch? Er wußte es nicht mehr. Als Kind hatte er Jack London gemocht, später den vor nicht so langer Zeit von Chatschajew in Tschetschenien verehrten Maxim Gorki. Dann war die Zeit der Bücher vorbei gewesen und die Epoche der Zeitungen angebrochen. Und wenn er auch selbst versucht hatte, etwas zu schreiben, so waren diese Versuche vor einem Jahr abrupt zu einem Ende gekommen, als er die Arbeit bei den ›Hauptstadtnachrichten‹ angenommen hatte. Mit dieser Arbeit war es längst vorbei, aber sie hatte jeden Wunsch nach dem geschriebenen Wort in ihm beseitigt. Dafür hatte sie ihn gelehrt, über den fremden Tod leicht und mit Achtung zu schreiben und zu denken.
Und wieder dachte er an den toten Angler auf dem Dnjepr. Diesen Angler hatte er nicht gekannt, also konnte er den Menschen nicht achten. Aber er achtete seinen Tod. Sein Tod verdiente vielleicht mehr Achtung als sein unbedeutendes Leben. Er war eindeutig frappierender. Und vermutlich behielten die Freunde in ihrer Erinnerung nicht den lebenden gewöhnlichen Trinker, der mit seiner Frau stritt und Türen zuknallte, sondern den schön Gestorbenen. Vielleicht beneideten sie ihn sogar um seinen Tod.
Viktor sah zum Turm am Haus der Gewerkschaften hoch, aber statt der genauen Uhrzeit erblickte er die längst schon sterbenslangweilige Adidas-Reklame. Er seufzte, wandte sich nach links und ging die Proreznajastraße aufwärts, in der Hoffnung, wenigstens ein Café zu finden, das geöffnet hatte.
Das einzige offene Café war das Internetcafé Cyber. Er ging hinein. Ein paar Halbwüchsige spielten an den [431] Computern virtuellen Krieg. Hinter einem Tisch saß der zuständige Computermann und blätterte in einer Vorjahresnummer der Zeitung ›Absolut Geheim‹. Aber er wurde doch auf Viktor aufmerksam und hob träge den fragenden Blick zu ihm.
»Haben Sie Kaffee?« fragte Viktor.
»Machen wir.«
Viktor sah sich nach den Computern um und überlegte. Er überlegte genauso träge, wie ihn jetzt dieser Bursche ansah, immer noch die aufgeschlagene Zeitung in der Hand.
»Möchten Sie vielleicht spielen? Oder haben Sie irgendein Problem?« Die Stimme klang herablassend.
»Kann man ins Internet?«
»Was denn sonst?«
»Dann Kaffee und Internet«, sagte Viktor.
»Computer Nummer sechs.« Der Bursche wies mit der Hand hin. »Setzen Sie sich. Den Kaffee bringe ich!«
Viktor ließ sich an dem Tisch nieder. Der tote Bildschirm belebte sich, und bunte Wellen eilten über ihn hin. Dann erschien die Explorer-Maske. Die Icons der Suchmaschinen tauchten auf, und Viktor klickte ›rambler.ru‹ an. Er schrieb sein Zauberwort ›Pinguin‹ ins Fenster, erhielt dreihundertachtzig Einträge und begann sie durchzugehen, bis er das bald satt hatte. Er kehrte zum Fenster zurück und schrieb: ›Antarktis‹. Hier stieß er auf schöne Fotos. Faszinierende Sonnenuntergänge auf dem Eis, Pinguine und Polarforscher. Und er erblickte ein vertrautes Gebäude – das war doch die Faraday-Station, oder wie hieß sie jetzt? Wernadskistation!
[432] Viktor wurde munter und sah sich die komplette Fotosammlung an. Dann kehrte er zu der Liste mit den Einträgen zurück. Er wurde auf ein seltsames ›Antarktis SOS ‹ aufmerksam und rief es auf.
Auf dem Bildschirm erschien ein Foto von zwei großgewachsenen Männern um die Fünfzig, braungebrannt und breitschultrig, vor einer schönen großen Jacht. Zwischen ihnen stand ein ebenso braungebranntes schlankes Mädchen, blond, mit windgegerbtem, entschlossenem Gesicht.
Unter dem Foto war in drei Sprachen: Russisch, Englisch und Kroatisch, ein und derselbe Text zu lesen.
›Eine Gruppe kroatischer Segler sucht einen Gleichgesinnten, der an einer Fahrt in die Antarktis teilnehmen möchte und bereit ist, einen Teil der Kosten für die Vorbereitung und Durchführung der Expedition zu übernehmen.‹
Darunter stand eine
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