Pinguine frieren nicht
er auf und sah ins Wohnzimmer. Ljoscha und Sonja schliefen. Alles war in Ordnung, nur Mischas Decke vor der Balkontür war leer. Der Pinguin war nicht an seinem Platz, und die Tür zum Flur stand offen.
Viktor ging in den Flur, knipste das Licht in der Küche an und sah hinein. Der Pinguin stand mit dem Gesicht zur Wand in die Ecke zwischen Herd und Wand gedrückt. Der Hocker mit Mischas Schüssel war weggeschoben. Mischa drückte sich geradezu mit dem ganzen Körper in diese Ecke, und Viktor schien es, daß seine abfallenden Schultern bebten, als ob er weinte.
Viktor ging neben Mischa in die Hocke. »Was hast du?« flüsterte er. Er berührte ihn an der Schulter.
[436] Mischa wandte sich um, und Viktor erblickte Blut auf seiner rechten Wange. Erstaunt berührte er den roten Punkt mit dem Finger. Das Gefieder an der Wange war blutgetränkt, und der rote Fleck wanderte weiter abwärts.
»Was ist das?« wunderte sich Viktor. »Wie hast du denn das gemacht?«
Mischa legte seinen Kopf auf Viktors ausgestreckte Hand, und der fühlte das Blut auf der Handfläche.
In diesem Moment spürte Viktor deutlich, daß noch jemand in der Küche war. Er drehte sich um und sah in die grünen Augen der Katze, die ihn unter dem Tisch hervor durchdringend anstarrten. Als ihre Blicke sich begegneten, fauchte die Katze. Da wurde Viktor alles klar, und heiliger Zorn überfiel ihn. Er griff unter den Tisch, packte das Tier im Genick und trug es, ohne auf den Schmerz zu achten, den die Krallen an seinem Handgelenk auslösten, hinaus in den Flur, öffnete die Wohnungstür und warf die Katze hinaus ins Treppenhaus.
Dann holte er Jod, tropfte sich etwas davon auf die Hand und kauerte sich mit dem Fläschchen vor Mischa hin. Er erkannte, daß man Kratzer bei einem Pinguin nicht einfach mit Jod bestreichen konnte. Sein Kopf arbeitete plötzlich exakt wie ein Uhrwerk. Und Mischa erwies sich als dankbarer und gefügiger Patient. Viktor schnitt ihm ein paar Federn um den Kratzer herum weg und betupfte ihn erst dann mit der Jodwatte.
Von draußen tönte klägliches, aber lautes Maunzen; die Katze verlangte, daß man sie in ihr Haus ließ.
Sonja erschien im weißen Frotteeschlafanzug in der [437] Küchentür und schaute verschlafen erst auf Viktor, dann auf den Pinguin.
»Die Katze hat ihn gekratzt«, erklärte Viktor.
»Man muß sie rausschmeißen«, sagte Sonja.
»Das darf man nicht.« Viktor seufzte. »Sie ist nur eifersüchtig auf Mischa.«
»Schenk mir Apfelschorle ein!« bat Sonja und nahm am Tisch Platz.
Viktor schenkte ihr und sich ein.
»Weißt du was«, sagte das Mädchen. »Tante Nina gefällt dem Onkel Ljoscha!«
Viktor starrte Sonja verblüfft an.
»Ja, ja«, beharrte sie. »Die ganze Zeit fragt er sie irgendwas. Und sie hat ihm schon von der Datscha in Osokorki erzählt, und von Onkel Serjoscha.« Sonja nickte hinüber zu der Urne auf dem Fensterbrett.
Viktor zuckte die Achseln.
»Du mußt wieder ins Bett«, sagte er. »Ich bleibe noch bei Mischa!«
Der Pinguin stand jetzt mit dem Rücken zum Herd und sah sein Herrchen nachdenklich an. Er wirkte gekränkt, aber vermutlich hatte das leuchtende Jod seinem Gesicht diesen Ausdruck aufgezeichnet.
Bevor er sich wieder schlafen legte, brachte Viktor Mischa zur Balkontür, und erst dann ließ er die Katze wieder in die Wohnung.
[438] 85
Morgens gegen elf fuhr Viktor über den nachts gefallenen Neuschnee nach Golossejewo. Die unberührte weiße Fläche vor Tor und Pforte von Sergej Pawlowitschs Haus zeugte davon, daß die Bewohner dieser kleinen Welt nichts von außerhalb deren Grenzen nötig hatten. Auf der Straße waren schon einige Wagen gefahren, aber die parallelen Linien der Reifenspuren liefen weiter und bogen mit der Straße rechts ab, dorthin, wo die Straße das Villenviertel verließ. Nirgends waren Fußspuren zu sehen. Viktor war offenbar der erste einsame Wanderer an diesem langsamen Morgen am zweiten Tag des neuen Jahres.
Pascha öffnete ihm die Pforte, frisch und rosig, im Skianzug. Viktor dachte sogar für einen Moment, Pascha sei gerade vom Langlauf zurückgekommen, aber gleich wurde ihm der Unsinn klar. Eine Skispur läßt sich schließlich leicht von einer Wagenspur unterscheiden.
»Der Chef schläft«, bemerkte Pascha gelassen. »Komm, wir trinken einen Kaffee!«
Gegen einen Kaffee hatte Viktor nichts einzuwenden. Vor der Eingangstür fegte er sich mit einem Reisigbesen den Schnee von den Schuhen, dann zog er drinnen die Schuhe aus.
»Er ist heute
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