Pinguine frieren nicht
ihn ein weiteres Mal ohne seine Einwilligung verkuppelt. Auf ihn wartete der Chefredakteursposten eines Propagandablattes. Und auch wenn man die Chefredakteure seltener umbrachte als die einfachen Journalisten-Soldaten, galt doch: Je kämpferischer das Blatt, desto kürzer das Leben des Chefredakteurs. Igor Lwowitsch war dafür selbst kein schlechtes Beispiel – die im Ausland versteckte Familie, seine Flucht letztes Jahr und sein falscher Unfalltod.
Viktor sah unter den Tisch und starrte regungslos auf die dort stehende Schreibmaschine, die ihm so viele Jahre treulich gedient und ihm geholfen hatte, ein Schriftsteller oder wenigstens ein kleiner Autor zu werden. Nein, sie hatte ihm nicht geholfen. Sie konnte ihm gar nicht helfen. Sie war nur das Werkzeug, wie es dem Holzfäller seine Axt oder dem Klempner seine Rohrzange war. Aber was war schon ein Holzfäller ohne Axt oder ein Klempner ohne sein Werkzeug? Viktor lächelte schief. Er bückte sich tiefer, zog die Schreibmaschine heraus und stellte sie auf den Tisch. Er fuhr über die Tastatur und fühlte den Staub unter den Fingern.
›Sie ist aber doch klein und angenehm‹, dachte er und sah hoch zur Lüftungsklappe.
Ihm war, als müßte sie durch die Klappe passen, und um das zu überprüfen, nahm er die Maschine, stieg auf den [492] Hocker am Herd, hob sie zur Lüftungsklappe hoch und steckte sie durch. Die Schreibmaschine paßte mühelos. Draußen war es still und dunkel. Viktor verharrte einen Augenblick und horchte in diese Stille. Dann gab er der Maschine einen Stoß und hielt den Atem an. Kurz darauf hörte er unten den Schlag auf dem Asphalt. Aber es klang nicht laut. Eine Art ›Zong‹ des unter dem Aufschlag zersprungenen Mechanismus.
Hinter ihm knarrte die Küchentür. Viktor drehte sich um und dachte, es sei Sonja. Aber auf der Schwelle stand Mischa-Pinguin und sah sein Herrchen an. Nach einem Moment lief er zu dem Hocker, auf dem Viktor stand. Es war ja auch Mischas Hocker, sein Tisch und der Platz für sein Schälchen.
Viktor sprang herunter, hockte sich vor Mischa hin und streichelte ihn.
»Verzeih, wenn ich dich aufgeweckt habe!« flüsterte er. »Weißt du, was ich getan habe?«
Der Pinguin neigte, ohne seine Äuglein von Viktor abzuwenden, den Kopf nach links, als ob ihm der Kognakgeruch mißfiele.
»Ich habe die Vergangenheit zum Fenster rausgeworfen«, flüsterte Viktor weiter. »Damit sie sich nicht wiederholt!«
Viktor kam es so vor, als ob Mischa verstehend nickte. Und das machte ihn so froh, daß er das Tier noch mal streichelte.
»Bald sind wir auf dem Meer!« sagte er zu dem Pinguin. »Erst fliegen wir, und dann geht’s aufs Meer hinaus!«
[493] 98
Die Anprobe der Adidas-Trikots löste im Café ›Afghanistan‹ stürmische Emotionen aus. Jetzt glaubten die Jungs an ihre sportliche Zukunft, die Viktor ihnen eröffnete, und in diesem Moment entstand das Gefühl, eine echte Mannschaft zu sein. Die runden Tische im Café eigneten sich nicht fürs Training, und Viktor erhielt von Sergej Pawlowitsch problemlos fünfhundert Dollar für drei solide, rechteckige Eichentische.
Es war nicht einfach, Ljoscha jeden Tag zum Training zu befördern, aber Viktor beklagte sich nicht. Inzwischen wußte er, daß es vor seiner Rückkehr aus Tschetschenien zwischen Ljoscha und seinen Invaliden-Kollegen irgendwelchen Ärger über Geld gegeben hatte. Es ging um die Umsätze oder noch irgendwas anderes. Damals hatte er auch zu trinken angefangen. Jetzt hatten sie ihm, als Mannschaftskapitän, endgültig alles vergeben, eine kleinere Geldschuld eingeschlossen. Sie schlugen ihm sogar vor, sein Zimmer im Wohnheim wieder zu beziehen, das unverändert leer stand, unaufgeräumt und ungelüftet. Viktor hielt bei dem Vorschlag den Atem an. Wenn Ljoscha darauf einging, mußte Viktor weder den bärtigen Bekannten noch seinen Rollstuhl mehr rauf- und runtertragen. Aber Ljoscha lehnte ohne Zögern ab. Er bat nur darum, daß sie ihm das Zimmer freihielten. Im gleichen Moment erkannte Viktor den Grund für seine Absage. ›Nina gefällt dem Onkel Ljoscha!‹ hörte Viktor wieder Sonjas Stimmchen.
[494] Sergej Pawlowitsch rief Viktor regelmäßig auf dem Handy an und fragte nach, was die Mannschaft so trieb. Die Reisepässe und Visa lagen schon im Safe des Chefs bereit. Die Organisatoren des Wettkampfs hatten ein Fax über die kostenlose Teilnehmer-Registrierung der Mannschaft ›Afghanistan‹ geschickt, aber gebeten, das Geld fürs Hotel im voraus zu
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