Pinguine frieren nicht
Das Gepäck der Sportler war vom Bus direkt auf einen Gepäckwagen des Flughafens geladen worden und befand sich außerhalb von Viktors Gesichtsfeld. Er bekreuzigte sich innerlich, seufzte und sah zu Mischa-Pinguin hinüber, der neben Ljoschas Rollstuhl stand.
Eines der sie bedienenden Mädchen blieb kurz bei dem Pinguin stehen, streichelte ihm übers Gefieder und bewunderte ihn.
»Ist das Ihr Maskottchen?« fragte sie Ljoscha.
Ljoscha nickte.
»Wissen Sie, die Luganer Basketballerinnen reisen immer mit einer Schildkröte«, sagte sie lächelnd.
Bald darauf wurden die Reisepässe gebracht, und der Chef verteilte sie an die Jungs. Dann wurde die Mannschaft zum Einchecken gebeten.
Als das Flugzeug immer höher stieg, beruhigte sich Viktor endgültig. Er zog den Ausdruck von Mladens letzter E-Mail mit dessen Handynummer aus der Brusttasche und tastete nach seinem Handy. Alles war an seinem Platz, alles war in Ordnung.
Es hatte überhaupt keine Zollkontrolle gegeben. Das also hieß Abflug ›unter dem Patronat‹ eines [504] Volksabgeordneten! Dienstfertige Mitarbeiter des Flughafens halfen allen Jungs, sich auf die Sitze im Flugzeug zu verteilen, und die Rollstühle wurden zusammengeklappt und auf einem Wägelchen zur offenen Laderaumluke gefahren.
Viktor mit dem Pinguin fiel eine ganze Dreiersitzreihe zu, die Reise begann höchst komfortabel. Viktor lächelte. Er streichelte Mischa, der mit dem Rücken zu seinem Herrchen auf dem Sitz stand und zum Fenster hinaussah. Er dachte an die weite Reise, die ihn und Mischa noch erwartete, und an den schwierigsten Teil des Weges – die Drakestraße. Die Erinnerung an diese Meerenge rief einen bitteren Geschmack auf der Zunge hervor, als ob das Gedächtnis dem Körper ein Signal gegeben hätte, auf das dieser aus seinem eigenen physiologischen Gedächtnis antwortete. Vier Tage Übelkeit und Beklemmung, das hieß für Viktors Körper die erste Überquerung der Drake-Straße an Bord des aus dem argentinischen Hafen Ushuaia ausgelaufenen Schiffes ›Horizont‹. Der Rückweg mit dem falschen polnischen Paß hatte eine Woche gedauert, aber in dieser Woche war die Meerenge ein wenig ruhiger gewesen. ›Und wie wird es diesmal?‹ überlegte Viktor und seufzte. Er sah die angeschlagenen Jachten vor sich, die bei ihnen an der Wernadskistation eingetroffen waren, die bleichen, halbtoten Reisenden, die ihren Fuß auf den hölzernen Anleger der Station gesetzt hatten. Über diesen ›Slip‹ erklommen alle Besucher den Weg zur Station. Diese Leute kamen, um sich ein wenig umzusehen und sich etwas zu erholen, ehe sie weiterfuhren oder zurückkehrten nach Australien und Neuseeland.
Das Flugzeug brummte einschläfernd. Im Gang [505] zwischen den Sitzen erschien eine Bar auf Rollen, und die Stewardeß fragte höflich: »Was möchten Sie trinken?«
»Haben Sie Gin-Tonic?«
Die junge Frau nickte, füllte rasch Gin und Tonic in einen Plastikbecher und ließ zwei Eiswürfel und ein Stück Zitrone hineinfallen. Sie überreichte es Viktor und wandte sich dem Sitz am Fenster zu.
»Was möchten Sie…«, begann sie, stockte und starrte auf den Pinguin.
Als habe er begriffen, daß das Mädchen ihn angesprochen hatte, drehte Mischa sich graziös und langsam um und musterte den Barwagen.
»Für ihn ein Wasser«, bat Viktor für seinen Schützling.
Das Mädchen nickte wieder.
»Mit Kohlensäure oder ohne?«
»Ohne.«
Viktor klappte das Tischchen vor Mischa herunter und stellte ihm das Glas Wasser hin. Der Pinguin spähte neugierig hinein, als erwartete er, einen Fisch darin zu sehen. Aber plötzlich steckte er ganz ruhig seinen Schnabel ins Glas und begann zu trinken.
101
Von Zagreb fuhr die Mannschaft in einem Spezialbus nach Split. Sie fuhren etwa fünf Stunden. Als die breite Straße sich bergab neigte und vor ihnen die weißen Hochhäuser der Stadt auftauchten, dahinter das blitzende Meer, klingelte in Viktors Hosentasche das Handy.
[506] »Wie war der Flug?« ließ sich Sergej Pawlowitsch vernehmen.
»Ausgezeichnet, wir nähern uns schon Split!«
»Kommt nicht ohne Sieg zurück! Ich rufe wieder an!«
»Ohne Sieg?!« Viktor lächelte schief und steckte das Handy zurück in die Tasche. ›Wir tun unser Bestes!‹
Im Hotel wurde die Mannschaft ›Afghanistan‹ sehr herzlich empfangen. Man brachte die Sportler im zweiten Stock unter – diese Etage war extra für Gäste in Rollstühlen eingerichtet. Überall glänzten verchromte Haltegriffe, es gab bequeme Auffahrten, drei
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