Pinguine frieren nicht
Kreditkarte und den Pin-Code. So, das ist alles, ich umarme dich. Zu meinem Begräbnis werden tausend Königspinguine kommen… Ich mache Spaß. Zum letzten Mal.
Ich küsse dich ganz fest, Stas
Viktor seufzte tief, als er den Brief zu Ende gelesen hatte. Er lag rücklings auf dem Bett und sah die Antarktis vor sich, mit Bronikowski und Scharen von Pinguinen, in deren Mitte zum allgemeinen, gänzlichen Pinguinglück nur noch der verlorene Sohn Mischa fehlte.
›Wenn nur die Wahlen bald vorbei sind‹, dachte Viktor. ›Dann nichts wie raus, auf den Weg, auf die Pinguinsuche!‹ Und natürlich den Brief an sein Ziel bringen. Es traf sich ja sogar, wenn man auch nicht sagen konnte: glücklich, daß die Empfängerin des Briefes und Mischa-Pinguin sich beide in Moskau befanden!
Etwa anderthalb Stunden später fuhr ein Auto in den Hof, und Viktor hörte durch das offene Dachfenster die [103] fröhliche und betrunkene Stimme des Chefberaters Schora. In den kurzen Augenblicken, während die Leute aus dem Wagen stiegen und ins Haus gingen, erkannte Viktor die Stimmen aller PR -Berater und eines von Sergej Pawlowitschs Leibwächtern, der die Truppe offenbar in die Sauna und wieder zurück chauffiert hatte.
Morgens frühstückte Viktor allein. Gegen neun Uhr schaute kurz der Hausherr in den gestrigen Hosen, mit weißem Hemd und Fliege herein. Auf seinem Gesicht lag ein erschöpftes Lächeln.
»Mach mir auch einen Kaffee, ja?« bat er Viktor und verschwand.
Drei Minuten später erschien er schon im Trainingsanzug. Er setzte sich, bedankte sich für den Kaffee, schüttete einen halben Löffel Zucker in seine Tasse und rührte um.
»Na, wie geht’s voran?« fragte er.
Viktor zog die Schultern hoch.
»Sie haben mir ja keinen weiteren Auftrag gegeben…«
»Und einen engeren auch nicht«, scherzte Sergej Pawlowitsch. »Mach dir keine Sorgen, ich habe nur so gefragt… Deine Hauptaufgabe besteht nun darin, diese Brigade zu beobachten. Vielleicht kannst du dir von ihnen noch was abgucken. Sind sie schon lang wieder zurück?«
»Seit zwei Uhr… Sergej Pawlowitsch, wann sind denn die Wahlen?«
»Die Wahlen? Bald. In zwei Wochen.« Der Hausherr versank plötzlich in Gedanken, und die Erschöpfung kehrte auf sein Gesicht zurück.
»Aber das ist ja schon bald…«
»Mhm, bald… Glaubst du, ich habe mich meinen [104] Wählern nicht genug gezeigt? Es gibt da ein ganz anderes Problem – mein Konkurrent spielt nicht mit offenen Karten. Er klebt immer noch keine Plakate, wirft nur Zettel in Briefkästen und sagt komischerweise kein böses Wort über mich. Sehr unangenehm.«
»Vielleicht ist er ein anständiger Kerl?« meinte Viktor und begriff sofort, als er Sergej Pawlowitschs erstauntem Blick begegnete, daß er offensichtlichen Unsinn losgelassen hatte.
»Was ist denn eine Wahl?« fragte Sergej Pawlowitsch leise. »Ein Wettkampf im Weitspucken. Verstehst du? Er muß beweisen, daß ich schlecht bin, und ich muß beweisen, daß ich besser bin als er.«
»Aber Sie beweisen doch gerade gar nichts?«
»Das ist doch nicht meine Sache! Ich habe hier vierzig Leute, die sich um die Wahlen kümmern!« sagte der Hausherr aufgebracht, aber sein Zorn richtete sich nicht gegen Viktor. »Meine Aufgabe besteht darin, rundum sauber zu sein, mit Krawatte und rasierter Visage. Das ist alles!«
Im Flur erklangen Schritte, und der Leibwächter Pascha stürzte in die Küche. Er hielt ein zusammengerolltes Plakat in der Hand und übergab es Sergej Pawlowitsch. Der entrollte es und vertiefte sich in die Wahlpropaganda seines Konkurrenten. Plötzlich schnitt er eine Grimasse und drehte sich heftig zu Pascha um. Der erstarrte neben dem Tisch.
»Was, ihr habt nicht gewußt, wo er das drucken läßt?«
»Er hat es nicht hier drucken lassen… in Belaja Zerkow…«
»Idioten«, stöhnte Sergej Pawlowitsch. »Und jetzt?«
[105] Er sah von Pascha zu Viktor. Der saß verwirrt daneben und versuchte zu begreifen, worum es ging.
»Was ist denn da?« fragte er vorsichtig.
Der Hausherr reichte ihm das Plakat. Es war ein ganz normales Plakat: ein nichtssagendes Gesicht mit niedriger Stirn und kurzem Haarschnitt, gerader Nase, kalten Zynismus im Blick, aber nicht aggressiv. Der Text zum Wahlprogramm enthielt nur Banalitäten, bis hin zu dem Versprechen, die Wohnungsnot seiner Wähler innerhalb von fünf Jahren durch staatlichen Wohnungsbau zu beseitigen.
Viktor sah den Hausherrn fragend an.
»Du hast nichts kapiert?« Sergej Pawlowitsch nickte in
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