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Pinguine frieren nicht

Pinguine frieren nicht

Titel: Pinguine frieren nicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrej Kurkow
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Aufrichtigkeit glaubte er nicht, aber Sonja kannte er länger und besser. Und wenn sie lächelte, dann war das ehrlich.
    »Willst du Blutwurst?« fragte Sonja und reckte sich, um Viktor besser sehen zu können. »Tante Nina hat sie für die Katze gekauft, aber die Katze will sie nicht. Dafür mag ich sie!«
    »Ja, gut, Blutwurst«, sagte Viktor, und seine Stimme klang schon ganz frei.
    »Wenn du alles aufißt, zeige ich dir ein Geheimnis!« versprach Sonja.
    Viktor nickte, aber innerlich war er ein ganz klein wenig enttäuscht, daß Sonja ihn nicht sofort nach Mischa gefragt hatte. ›Sie hat ihn doch nicht schon vergessen?‹ überlegte er, zweifelte aber gleich selbst an diesem Gedanken.
    Und nicht umsonst, wie sich herausstellte. Nach dem üppigen Abendessen – er war gerade aufgetaucht, als die Pfanne mit der Blutwurst und den Bratkartoffeln vom Herd kam – setzten sie sich zu dritt ins Wohnzimmer. Sonja legte sich eine alte Dokumentenmappe mit der bedrohlichen Aufschrift ›Aktenzeichen Nr.…‹ auf die Knie. Sie löste die Bänder und streckte die Mappe, ohne sie aufzumachen, Viktor hin.
    Viktor öffnete sie vorsichtig und nahm an, daß er jetzt Sonjas kindliche Zeichnungen begutachten sollte. Es waren im übrigen wirklich Zeichnungen, nur nicht sehr kindliche. Auf jedem Blatt war ein unzweifelhaft von Sonjas Hand stammender, kleiner schwarz-weißer Pinguin zu sehen, und über dem Bild stand in ihren krakeligen [152] Buchstaben: ›Vermißt wird der Pinguin Mischa. Wer ihn findet, erhält 5000 Griwni Belohnung. Anrufe unter Telefonnummer…‹
    »Es ist kein Betrug, Tante Nina hat gesagt, daß sie mir das Geld gibt!« verkündete Sonja aufgeregt, während sie beunruhigt in Viktors verdüstertes Gesicht sah. »Man muß das nur überall aushängen. Tante Nina hat gesagt, für dieses Geld bringen sie uns gleich fünf Pinguine! Auch aus Moskau! Hauptsache, wir verwechseln ihn nicht. Aber Mischa erkenne ich gleich. Hilfst du mir, sie anzukleben?«
    »Ja«, versprach Viktor.
    Nina schwieg an diesem Abend viel und betrachtete Viktor mit zärtlicher Traurigkeit im Blick. Sie sah ihn so an, daß Viktor irgendwann das Gefühl hatte, es existierte gar kein Haus in Golossejewo, kein Pascha und kein Sergej Pawlowitsch, und er lebte hier im vierten Stock sein Leben, in dem es nur ein einziges Problem gab: den verschwundenen Mischa-Pinguin.
    »Vielleicht bleibst du einfach da?« fragte Nina vorsichtig, als Viktor aufbrechen wollte.
    Viktor hielt einen Augenblick inne und seufzte tief.
    »Du warst es doch, der verschwunden ist, du mußtest ja wegfahren«, beantwortete Nina seinen Seufzer. »Sonja und ich, wir hatten Angst, allein…«
    »Ich hatte keine Angst!« rief Sonja dazwischen. »Das war sie, die Angst hatte! Und gestern hat sie geweint!«
    Nina warf dem Mädchen einen Blick zu wie einer Verräterin, voll Abneigung und Bedauern. Aber das dauerte nur einen Moment.
    [153] 26
    Es blieben noch fünf Tage bis zur Wahl.
    Nachts donnerte es mächtig, und in dem kleinen, himmelszugewandten Dachfenster zuckten Blitze. Viktor wachte immer wieder auf. Er setzte sich hin, stand auf und trat ans Fenster. Er dachte an Sonja und Nina und daran, daß Nina vorgestern geweint hatte. Sah in Gedanken wieder die gut dreißig Pinguinsuchmeldungen, die Sonja geschrieben und gemalt hatte. Auf dem Heimweg nach Golossejewo hatte er vorgehabt, dem Chef gleich von dem seltsamen Verhalten und der Flucht des Computerspezialisten zu berichten, aber da war ihm die geöffnete Datei über den Abgeordneten und dessen Familie eingefallen, und er hatte Angst bekommen, er könnte sich unabsichtlich, aus Müdigkeit, über diese Datei verplappern. Er wollte nicht zeigen, daß er dort auf dem Bildschirm irgend etwas gelesen hatte. Den ganzen Weg quälte er sich mit diesen Gedanken, aber als er ankam, hatte sich alles von selbst geregelt. Pascha sagte ihm, als er ihn hereinließ, daß der Chef erst gegen Morgen und dann sehr müde heimkommen werde. Für alle Fälle erzählte Viktor Pascha von seinen Zweifeln, den Computermann betreffend. Pascha nickte und ging zurück in die Küche.
    Auf dem Weg nach oben hörte Viktor Männerstimmen aus der Küche. Eine davon gehörte Pascha. Zu dem Zeitpunkt hatte es noch nicht gewittert, das Gewitter kam später, als Viktor schon schlief. Und es dauerte bis morgens. Im Morgengrauen verstummten die tobenden Naturgewalten, und die plötzlich eingetretene Stille weckte Viktor. [154] Schläfrig wanderte sein Blick zum

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