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Pinguine frieren nicht

Pinguine frieren nicht

Titel: Pinguine frieren nicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrej Kurkow
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ab…«
    Sewa zog eine Packung Zigaretten aus der Jackentasche und ging auch zur Tür. Viktor, der, wie nach der Sauna, ein Bedürfnis nach Kühle verspürte, folgte ihm.
    Vom Himmel fiel feiner Schnee, und es war wie eine Neujahrsnacht. Man mochte nicht glauben, daß es Oktober war, wenn auch schon Ende Oktober. In Kiew war jetzt die Saison für Regen und Nebel, und hier – diese Schönheit vor finsterem Hintergrund, vor dem Rauch aus dem Schornstein des privaten Krematoriums.
    Viktor seufzte. Er stand da, mit zurückgelegtem Kopf und geschlossenen Augen, und auf seinem erhitzten Gesicht tauten die Schneeflocken. Er dachte an Kiew, an Sonja, die sicher auch auf den Winter und den Schnee wartete. Er dachte sogar an Nina, die ebenfalls wartete, man wußte nicht, auf was, nur gewiß nicht auf ihn, Viktor. Vermutlich wartete sie einfach auf Stabilität in ihrem Leben, einen beliebigen Mann an ihrer Seite, ein Dach über dem Kopf und ein bißchen Geld. Ach ja, und eine Datscha mit einem Stückchen Land für einen Gemüsegarten!
    Viktor zog die Schultern hoch. Die Gedanken an Nina ließen ihn auf einmal nicht los. Er versuchte, sie zu verstehen, was aus dieser Entfernung ja vielleicht leichter war. Aber sie blieb trotzdem in seinen Gedanken ein außenstehender, zufälliger Mensch. Nur ihre Verwandtschaft mit Sergej Fischbein-Stepanenko rechtfertigte ihre Anwesenheit in Viktors Leben. Nicht mal mehr in seinem jetzigen Leben, sondern in seiner Vergangenheit.
    [289] Die Schneeflocken fielen ihm aufs Gesicht, tauten und rannen tropfenweise abwärts.
    »Witja, du?« erklang eine vertraute Stimme.
    Viktor schlug die Augen auf und erstarrte, als er Matwej Wassiliewitsch erblickte, mit dem er die Reise aus Moskau hierher gemacht hatte. Der alte Mann sah sehr schlecht aus, graue Bartstoppeln bedeckten seine faltigen Wangen, und die tief eingefallenen Augen schimmerten traurig und unendlich müde.
    »Matwej Wassiliewitsch!« sagte Viktor erstaunt. »Aber was…«
    Und da begriff Viktor, was der alte Mann hier machte. Hier war ja der Alte, den sie, wie die Tschetschenen gesagt hatten, anständig behandeln sollten, hier war der Vater des Kunden, für den keiner bezahlt hatte…
    Viktor verstummte. Entsetzen packte ihn, und er brachte keine Frage über die Lippen.
    »Ja, so ist das…«, murmelte Matwej Wassiliewitsch nach einer langen Pause. »Ich kam, um ihn lebendig zu holen…«
    Viktor sah, wie Sewa hinter dem Rücken des Alten auftauchte und ihrem Gespräch zuhörte.
    »Kennt ihr euch?« fragte Sewa leise.
    Viktor nickte, und Sewa ging weiter weg, hinter einen Baum. Nur das Glimmen seiner Zigarette war noch etwa zehn Meter von ihnen entfernt zu sehen.
    »Sie haben einem sechsjährigen Bub eine MP gegeben, daß er unsere Leute erschreckt«, sagte Matwej Wassiliewitsch leise. »Der Bub hat abgedrückt… Ist das etwa Krieg?«
    Die Frage aus Matwej Wassiliewitschs Mund klang so [290] müde und ungläubig, daß Viktor fühlte, wie ihn ein Schauer überlief.
    ›Ist das etwa Krieg?‹ fragte Viktor sich und zog zur Antwort nur die Schultern hoch. Er kämpfte hier doch nicht, er war überhaupt nur zufällig hierhergeraten. Das Schicksal hatte ihn hierhergetrieben, und nicht mal sein eigenes, sondern das von Mischa.
    »Hast du denn deinen Freund gefunden?« fragte Matwej Wassiliewitsch plötzlich, als hätte Viktors Gesicht seine geheimen Gedanken verraten.
    Viktor schüttelte den Kopf.
    »Nein«, sagte er. »Aber ich finde ihn!«
    Der Alte nickte.
    »Richtig so«, flüsterte er. »Wenn mein Wasja solche Freunde gehabt hätte… hätte er überlebt…«
    Anderthalb Stunden später standen sie zu dritt vor den offenen Luken des Krematoriumofens. Sewa hantierte mit dem Besen, fegte die innere Röhre, aus der die Asche in den bereitstehenden Blecheimer fiel. Etwas klirrte metallisch, und Viktor warf einen Blick auf Sewa. Und wirklich hellte sein Gesicht sich plötzlich auf, und in seinen Augen blitzte weniger Freude als vielmehr eine Art Leidenschaft. Sewa spürte Viktors Blick, und sein Gesichtsausdruck wurde wieder nüchtern-geschäftsmäßig.
    ›Der Sternchen-Ohrring!‹ erinnerte sich Viktor und dachte noch, daß er nicht auf die Finger des Jungen geachtet hatte.
    »Geht nach draußen, ich bringe es gleich!« sagte Sewa.
    Nach fünf Minuten kam er aus der Baracke und trat zu Viktor und dem Alten. Er streckte dem Alten eine [291] sichtbar schwere Tüte mit ›Aeroflot‹-Emblem und dem Aufdruck ›Duty-Free‹ hin.
    Viktor staunte.

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