Pinguine frieren nicht
Gewöhnlich gaben sie die Asche in schwarzen, henkellosen Plastikbeuteln heraus, einfach oben zugeknotet. Aber hier hatte Sewa offenbar das Mitgefühl gepackt, daß er irgendwo aus seinen Vorräten eine solche Tüte ausgegraben hatte!
Der Alte nahm die Tüte in die linke Hand. Mit der rechten suchte er aus der Hosentasche zwei fransige Eindollarscheine und gab sie Sewa. Sewa nahm einen und sah auf Viktor. Viktor wollte das Geld nicht nehmen, und schließlich landete auch der zweite Dollar in Sewas Händen.
»Wohin gehen Sie jetzt?« fragte Viktor Matwej Wassiliewitsch.
Der Alte stand da und starrte abwesend vor sich hin, ohne Viktor zu sehen oder zu hören. Über seine Stoppeln rannen Tränen. Er hob kaum merklich die Tüte mit der Asche seines Sohnes, als würde er das Gewicht abwägen.
Viktor wiederholte seine Frage.
Matwej Wassiliewitsch erschauerte und hob den Blick zu Viktor. Er seufzte tief.
»Ich hab’s nicht weit. Anderthalb Stunden die Röhre entlang, und dann, weiter… Weißt du, wie man ihn begraben soll?« Der Alte wies mit dem Blick auf die Tüte mit der Asche. »In einem normalen Grab?… Bei uns begräbt man doch alle in Särgen… Bei uns gibt es doch keine Krematorien…«
Viktor biß die Zähne zusammen. Dem Alten von Urnenhallen zu erzählen, hatte keinen Sinn, und er wollte es [292] auch nicht. Er hatte ja selbst immer noch nicht entscheiden können, was er mit der Asche von Sergej tun sollte. Besser gesagt, er hatte schon entschieden, gar nichts zu tun. Es gefiel ihm, daß Sergej, wenn schon nicht lebendig, so doch immer in der Nähe war, in der warmen und gemütlichen Küche, wo man immer mit ihm reden konnte…
»In einem normalen Grab«, stieß Viktor heraus und wandte sich ab.
Matwej Wassiliewitsch nickte. Sie umarmten sich zum Abschied, und Sewa ging taktvoll beiseite.
»Bleib hier nicht hängen!« sagte der Alte zu Viktor. »Finde deinen Freund und geh weg! Hier wird es nie Frieden geben!«
52
Sewas Geburtstag feierten sie zu dritt. Sie setzten sich zu Mittag an den Tisch, damit bis zur Dunkelheit Zeit zum Feiern und wieder Nüchternwerden war. Auf dem Tisch stand die von den Föderalen spendierte Wodkaflasche, dazu drei Emailbecher mit Bären und Krokodilen, drei Schüsseln mit gekochten Kartoffeln, ein paar Streifen Dörrfleisch und ein Halbliterglas Pflaumensoße. Fleisch und Soße hatte Asa mit großzügiger Geste beigesteuert.
Das Geburtstagskind persönlich schenkte den Wodka aus. Er goß nur wenig ein, hob seinen Becher und wartete auf einen Trinkspruch.
»Also, auf deine Gesundheit!« beendete Viktor die Pause.
Sie stießen mit den Bechern an, und der ungewohnte [293] Klang des dumpf aneinanderstoßenden Metalls ließ Viktor zusammenzucken. Ein Leben lang hatte er mit Kristall oder anderen Gläsern angestoßen, jetzt erkannte er plötzlich, wie fremd einem Fest jeder metallische Klang war. Und innerlich hörte er sofort einen anderen, ähnlichen Klang, der ihn jedesmal schaudern ließ – den Klang des in den Blecheimer fallenden Tropfens aus geschmolzenem Gold.
»Trink, trink!« riß Sewa Viktor aus seinen Gedanken. Sein Gesicht strahlte zufrieden. »Das ist guter Wodka! Sauberer! Beinah Smirnoff!«
Viktor kippte den Wodka hinunter, nahm sich einen Streifen Dörrfleisch, tunkte ihn in das offene Glas mit Pflaumensoße und begann zu kauen.
Asa trank auch und aß Kartoffeln hinterher. Dann griff er zur Flasche und schenkte wieder ein wenig Wodka in die Becher.
Sewa protestierte. »Man wechselt nicht die Hand am Tisch, die den Wodka ausschenkt!«
»Das ist euer russischer Aberglaube!« sagte Asa lachend. »Schwarze Katzen, leere Eimer… Du bist doch schon groß, neunzehn Jahre alt!«
Sewa zuckte die Achseln.
»Die nächste Runde schenke ich aus«, sagte er. »Sonst bringt es Unglück… Ich habe es überprüft: wenn du gegen diese Regel verstößt, hast du am Morgen Kopfweh!«
Asa winkte ab und nickte. Dann hob er seinen Becher.
»Auf daß du klüger wirst!« brachte er seinen Toast aus.
Sewa lachte auf einmal.
»Du willst sagen: ›Auf die höhere Bildung!‹« verbesserte er den Aserbaidschaner immer noch lachend.
[294] »Na, wenn zu deiner Bauernschläue auch noch Bildung kommt, wirst du mal Chef!«
Sewa war eindeutig entschlossen, nicht wegen Asa beleidigt zu sein. Vielleicht wollte Asa das Geburtstagskind auch gar nicht beleidigen. So war eben einfach ihr Tischplauderton, und Viktor, der zuerst befürchtet hatte, das Fest könnte in einer
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