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Pinguine lieben nur einmal

Pinguine lieben nur einmal

Titel: Pinguine lieben nur einmal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kyra Groh
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Zeigefinger leicht auf die Mitte des Papiers. Ich spüre die Pünktchen, ohne zu wissen, was sie bedeuten.
    »Harry Potter«, sagt er dann und zieht meinen Finger über eine Reihe kleiner Pünktchen.
    »Wahnsinn«, sage ich fasziniert. Wieder und wieder fahre ich mit verschiedenen Fingern über die vielen Punkte, die Harry Potter bedeuten.
    »Mit den Zetteln kann ich alles finden. Außerdem kleben Schildchen an den Hüllen. Man lernt, sich zu organisieren.«
    »Ist es schwer, das zu lernen?«
    »Sich zu organisieren?«
    »Quatsch. Das hier. Blindenschrift.«
    »Ist es schwer, Buchstaben lesen zu lernen?«
    Wieder trifft er meine bereits blutende Nase. Sie knackt und knirscht.
    »Ich… nein, ja… keine Ahnung.«
    »Also.« Janosch lässt meine Hände los und sinkt mit hinter dem Kopf verschränkten Armen tiefer ins Sofa.
    » Daredevil ist einer der schlechtesten Filme, die ich je gesehen habe«, sage ich, weil mir das spontan einfällt.
    »Kann schon sein.«
    Geräuschvoll nippe ich an meinem Tee und mustere Janosch von der Seite. »Wie hast du mich im Hof erkannt?«, stelle ich endlich meine Frage.
    »Wer sonst sollte dieses Hörbuch hören, statt auf der Party des Jahres rumzufallen?« Er sagt das, als wäre es so einleuchtend, als hätte es wirklich nur ich sein können, als wäre meine Frage dumm und überflüssig.
    »Ach so.« Irgendwie finde ich es blöd, dass seine Erklärung so banal klingt. Ich sehe ihn weiter an. Dieses Mal so eindringlich, als wollte ich jedes Detail seines Äußeren aufsaugen. So als wäre das hier eine Gameshow, und gleich würde die aktuelle Moderationsallzweckwaffe von RTL hereinkommen, Janosch mit einem Tuch bedecken, und ich müsste ihn, ohne ihn noch einmal ansehen zu dürfen, naturgetreu porträtieren.
    Seine Haare sind dunkelbraun. Sie fallen ihm in einem unordentlichen Seitenscheitel in die Stirn. Immer wieder streicht er sie hinter die Ohren. Fährt durch sie hindurch. Aber sie fallen wie von selbst zurück in diesen Seitenscheitel. Sie sind weder glatt noch lockig. Sie sind durcheinander.
    Seine Augen sind so tief dunkelblau, dass sie grau schimmern. Ein grauer Ring umschließt die Iris, in der sich alle erdenklichen Blauschattierungen verwirbeln und miteinander verschmelzen. Wenn man sie fixiert, fühlt man sich, als würde man in ein weites dunkles Loch fallen. Ich weiß nicht, wie ich mir blinde Augen bisher vorgestellt habe. Wahrscheinlich milchig hellgrau. Aber ich weiß von Cem, dass sie nur dann so aussehen, wenn die Erblindung durch eine Verletzung bedingt ist, die man sich im Laufe seines Lebens zugezogen hat. Janoschs Augen sehen ganz normal aus. Nein, das stimmt nicht. Sie sehen sehr viel schöner aus als normale Augen. Ihnen fehlt nur– so kommt es mir jedenfalls vor– ein winziger letzter Schliff. Eine Tiefe. Ein Prozess, der hinter den Augen stattfindet.
    Seine Augenbrauen sind sehr schmal– eine kaum gebogene Linie über müden Lidern. Nase und Mund sindabsolut symmetrisch. Die Nase ist gerade und der Mund voll. Geschwungene Lippen, wie weiche rosa Kissen, weiße Zähne, die Schneidezähne etwas zu groß. Über der Oberlippe und am Kinn schimmern dunkle Bartstoppeln durch die reine Haut. Er hat ein Grübchen am Kinn.
    Seine Hände sind weich, die Finger lang und schlank, die Nägel hellrosa, halbmondförmig und kurz, auf den Unterarmen treten unter feinen Härchen die Adern hervor. Schultern und Brust sind breit, und ich glaube, er ist recht muskulös, der Rest seiner Silhouette ist schlank und groß. Lange Beine, große Füße. Er trägt Jeans und ein schwarzes Sweatshirt. Drunter blaukarierte Boxershorts.
    Kurzum: Er sieht aus wie einer von den Männern, die bevorzugt mit Mädchen ausgehen, die irgendwas mit Medien machen. Aber nicht mit mir. Solche Männer beachten mich nicht.
    Ich muss hier weg.
    Hektisch stürze ich den Tee herunter, stelle die Tasse in die Spüle und sage: »Ich bin müde. Ich kann jetzt schlafen, glaube ich, auch ohne Harry Potter. Also, ich geh dann mal wieder hoch. Danke für den Tee. Ich… äh… Ciao.«
    Janosch richtet sich auf, stützt die Ellenbogen auf die Knie (Filmgeste!) und sieht in meine Richtung. Meine Decke hinter mir herschleifend eile ich mit dem Player unter dem Arm zur Tür, stolpere über den Saum des Bettbezugs und kann mich im letzten Moment geräuschvoll am Türgriff auffangen.
    »Fall nicht wieder hin«, Janoschs Stimme klingt amüsiert. Janoschs Stimme…
    »Ich geh dann. Hoch. Ich geh dann mal hoch.

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