Pinguinwetter: Roman (German Edition)
sich, bei mir den eigens von ihr so bezeichneten Kommerz-Kaffee zu trinken und tauschte ihn immer unauffällig gegen Fair-Trade-Kaffee aus.
Einmal hatte sie bei einem gemeinsamen Essen sogar die Garnelen von allen Tellern eingesammelt, weil der Kellner deren genaue Herkunft nicht kannte und sie nicht bio waren.
»Alles voll mit Antibiotikum!«, schimpfte sie.
Mein Einwurf, man würde sich dann aber damit doch den ein oder anderen Arztbesuch sparen, zählte bei Tante Marlene nicht.
Dabei sah sie gar nicht bio aus, im Gegenteil. Sie war immer très chic und sah mit ihren fünfundfünfzig Jahren aus wie Mitte vierzig.
Das fand auch ihr gebeutelter Mann Jürgen, der nichts mehr liebte als ein gutes T-Bone-Steak, medium gebraten, mit lecker Pommes. Der hatte allerdings noch mehr unter ihrer Gutmenschen-Einstellung zu leiden als ich. Aufgrund der bislang fünfundzwanzigjährigen Marlene-Herrschaft, in der sie ein eigenes Rohkost-Imperium aufgebaut hatte, lebte er in ihrer Ehe vegetarisch und konnte nur heimlich Fleisch essen.
Einmal hatte ich ihn in einem Fast-Food-Restaurant getroffen. Er saß ganz hinten in einer dunklen Ecke und hatte bereits einen Big Mac und diverse Aktionsburger verspeist.
Ich musste ihm hoch und heilig versprechen, Marlene nichts zu sagen und mich auf keinen Fall zu verplappern. Im Gegenzug übernahm Jürgen meine Rechnung, und ich machte fette Beute.
Bis dahin wusste ich gar nicht, dass ich tatsächlich in der Lage war, drei große Burger mit Pommes zu essen, wenn es umsonst war. Beim anschließenden Erdbeer-Milchshake, der unbedingt noch sein musste, wurde mir dann allerdings schlecht. Trotzdem war es ein guter Deal, wie ich damals fand, obwohl ich leicht gekrümmt nach Hause ging.
Beim nächsten Grünkernburgeressen an Pfingsten hatte ich echt Mühe, mich zusammenzureißen und mir nichts anmerken zu lassen. Mein grinsendes Gesicht fiel nämlich nicht nur Jürgen auf, und ich erntete böse Blicke von ihm.
Bei Renate und Marlene gab es allerdings eine Gemeinsamkeit, die sich nicht von der Hand weisen ließ. Beide waren definitiv etwas anders .
Und das kam – und das wusste ich mit absoluter Sicherheit – von meiner Oma. Melitta Beutel. Ja, das war tatsächlich ihr Name, und sie war mit absoluter Gewissheit anders als alle Menschen, die ich kannte oder je getroffen hatte.
Die gleichnamige Kaffeefirma hatte ihr schon einige Male große Pakete Kaffee und Filtertüten zugesandt, in der Hoffnung, sie als Werbegesicht zu gewinnen. Natürlich vergebens.
Melitta war ein Kriegskind, fast neunzig Jahre alt und lebte auf einem alten Bauernhof mitten im Wald am Ende der Welt und weigerte sich, von dort wegzugehen.
Jeden Morgen um fünf stand sie auf, um sämtliche Hirsche und Rehe von ihrem Gemüsebeet zu vertreiben, indem sie in ihr Horn blies (früher hatte ich mich bei dem Geräusch immer wie in Herr der Ringe – Die Gefährten gefühlt), und um den ein oder anderen Maulwurf mit der Schreckschusspistole ihres verstorbenen Mannes von der Terrasse aus zu erledigen. In Tierkreisen war sie gefürchtet. Aber nicht nur da.
Für sie gab es nur eine Mitteilungsform, und das war die des Imperativs. Diesen nutzte sie grundsätzlich in einer Lautstärke, die selbst gut geübten Discogängern das Trommelfell platzen ließ. Nachbarn, Metzgereifachfrauen und Kellner fürchteten ihre radikalen Anweisungen gleichermaßen wie ihre Familie. Was man ihr allerdings lassen musste, war, dass sie zwar kein Blatt vor den Mund nahm, aber immer ehrlich war. Nach einiger Zeit (bei mir dauerte es knapp dreißig Jahre) wusste man das allerdings zu schätzen.
»Ja, vielleicht hast du recht, Marlene. Mir fällt die Decke hier auf den Kopf, ich muss wirklich mal raus.«
War nur die Frage, ob das Ende der Zivilisation gut geeignet war, um rauszukommen …
»Sehr gut. Dann kommst du uns auf dem Hin- oder Rückweg besuchen. Ich habe ein paar neue super Rezepte, die muss ich einfach für dich kochen. Sehr figurfreundlich, Kind, also genau das, was du brauchst. Du wirst begeistert sein!«
Der Jürgen sicher auch.
Ich stellte mir immer vor, wie Jürgen im hohen Alter (durch Bioernährung wird man mindestens hundert Jahre alt, meinte Marlene) auf dem Sterbebett liegt, während Marlene ihm die Hand hält, und ihr beichtet, dass er während ihrer dann über sechzigjährigen Ehe nie Vegetarier war. Was dann wohl los sein wird? Ich konnte mich mit diesem Bild immer wieder aufheitern, besonders in Situationen wie dieser.
Bevor
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