Pinien sind stumme Zeugen
ein Amokläufer, ein Irrer?«
»Ich sehe nur den Tatsachen ins Auge, Ernst«, erwidert der ehemalige Rapportführer. »Und ich will dich nur beruhigen. Wie gesagt: Du spürst fast nichts. Beim Zahnarzt ist's eigentlich schlimmer.«
Schibalsky ist ein Brocken von einem Mann. Er hat einen Händedruck wie eine Zange und die Augen eines trockengelegten Säufers – und eine entstellende Lücke in den oberen Schneidezähnen seit einem Handgemenge mit einem polnischen Bewacher in schwarzgefärbter US-Uniform. Das Angebot der Gefängnisleitung, ihm Stiftzähne einzusetzen, hat Schibalsky mit den Worten abgelehnt: ›Was soll denn jetzt noch 'ne Schönheitsreparatur, wo ick doch sowieso uffjehängt werde?‹
Sterben wird der Schinder von Mauthausen mit Sicherheit, darüber sind sich alle Rotjacken einig. Etliche kennen ihn noch von früher und wissen ziemlich genau, was er auf dem Kerbholz hat. Er hat nicht nur Befehle ausgeführt, sondern auch noch seinen Spaß daran gehabt. Vielleicht ist er deshalb der Härteste unter den Rotjacken, weil er am wenigsten Chancen hat, Landsberg zu überleben.
Ohlendorf gilt als der Intelligenteste, Peiper als der Schweigsamste, Blobel als der Dümmste, Braune als der Geschwätzigste, Pohl als der Frömmste, Naumann als der Ängstlichste, Schmidt als der Unsympathischste und Müller-Malbach als der Weichmann unter den Rotjacken. Selbst im Schatten des Galgens gibt es noch eine Beurteilung, einmal von der Gefängnisleitung und eine andere von den Todeskandidaten selbst, die zwischen Angst und Hoffnung vegetieren.
Das Zauberwort heißt Hinrichtungs-Stopp, aber er wurde schon zweimal ohne Vorankündigung aufgehoben. Jederzeit kann der bullige Sergeant, den sie ›Todesengel‹ nennen, am Abend ihre Zelle betreten und eine Rotjacke abholen. Manchmal acht oder zehn, aber auch schon dreißig oder vierzig.
»Bibel, Bilder und Decken!« befiehlt der Uniformierte. Mehr braucht er auch nicht zu sagen: ›Du wirst morgen früh gehängt‹, heißt das. ›Du darfst deine Utensilien mit in den Keller nehmen und ein letztes Mal mit deiner Frau und morgigen Witwe sprechen, getrennt durch eine Glaswand, bemessen wie mit der Stoppuhr. Wenn du willst, wird dich der Pfarrer trösten. Im Keller triffst du auf die anderen, die ebenfalls gehofft hatten, noch einmal davonzukommen.‹
Inzwischen hat die Gefängnisleitung telegrafisch bei den Angehörigen des noch lebenden Delinquenten angefragt, ob sie Anspruch auf die Leiche des Verstorbenen erheben. Mitunter stehlen sich Kameraden in den Keller, um sich zu verabschieden; Burschen voller Erleichterung, daß sie dem Tod wieder einmal von der Schippe gesprungen sind – für immer oder bloß bis zum nächsten Mal –, die beim letzten Händedruck einen Moment lang voller Scham an der Rotjacke vorbeisehen.
Henkersmahlzeit nach Wunsch. Alkohol ausgenommen. Zigaretten satt. Eine Häftlingskapelle veranstaltet für den Delinquenten ein Wunschkonzert, getragene Weisen, zwischendurch auch Schnulzen. Stimmung kommt nicht auf. Wenn die Musiker ihre Instrumente einpacken, werden die Rotjacken nacheinander aufgerufen und im Abstand einiger Minuten den kurzen Weg zum Blutgerüst geführt. Die Reihenfolge kann schicksalhaft sein: Zwei Rotjacken wurden im letzten Moment zurückgerufen, einer von ihnen begnadigt; beim zweiten steht die Entscheidung noch aus.
Hammerschläge sind im ganzen Haus zu hören. Vielleicht reparieren ganz normale Handwerker Türstöcke oder Schränke. Das widerliche Geräusch kann aber auch von der Hinrichtungsstätte kommen, die zum letzten Akt hergerichtet wird. Man hält sich die Ohren zu. Man schwitzt, man weint, man betet, man beteuert sich in Selbstgesprächen seine Unschuld. Auch die zu Zeitstrafen verurteilten Häftlinge ducken sich in die Angst. Millionäre und Habenichtse, Industrielle und Unbekannte, Flick und Krupp neben Hinz und Kunz, Landsberger Allerlei.
»Ich kann das nicht mehr hören«, stöhnt Müller-Malbach unter den Klopfgeräuschen. »Ich werde wahnsinnig.« Der einst Übergewichtige hat abgenommen; sein dickliches Gesicht wirkt eingefallen. Trotz seiner gebrochenen Boxernase wirkt er mehr zimperlich als martialisch. Früher war er zum Fürchten, heute sieht er nur noch zum Fürchten aus.
»Nimm 'ne Lulle, Ernst.« Schibalsky bietet ihm eine Zigarette an. »Das beruhigt die Nerven.«
Der Ex-Sturmbannführer greift mit zitternder Hand nach dem Glimmstengel, zieht den Rauch heftig ein, wie in Atemnot.
»Das hättest du
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