Pinien sind stumme Zeugen
also Kriegsgefangenschaft …«
»Ja«, erklärte der Spieß. »Es gibt keine andere Möglichkeit. Ich will Ihnen ja keinen Rat geben, Herr Oberleutnant, aber ich an Ihrer Stelle …« Sollfrei schwieg und ließ ihn weiterreden. »Wenn Sie aber doch türmen wollen und nicht mehr rechtzeitig über den Arno kommen, gäbe es ein anderes Entkommen.« Wieder deutete der Spieß mit dem Finger auf die Karte. »Die Tenuta di Tombolo, ein riesiger Pinienwald, gar nicht so weit von hier entfernt. Wenn Sie den erreichen, sind Sie zunächst auf Nummer Sicher und können in Freiheit abwarten, bis der Krieg zu Ende ist.« Der Spieß zeigte noch einmal auf den Punkt. »Hier, genau zwischen Pisa und Livorno. Es sollen sich schon Tausende von Versprengten dort herumtreiben.«
»Schon gut«, entgegnete der Oberleutnant. »Und besten Dank.«
Seine Illusionen waren längst gefallen und durch den Traum vom Überleben ersetzt worden.
Sie gingen in Sollfreis Zimmer zurück, um die neuesten Radiomeldungen zu hören. Selbst die durch die Propaganda geschönten Nachrichten des Reichsrundfunks klangen miserabel: Luftangriffe auf die Heimat, Nacht für Nacht. Der alliierte Durchbruch an der Ivasionsfront bei Avranches, Einsturz im Osten, praktisch auf der ganzen Frontbreite – Blitzkrieg in die falsche Richtung.
Sollfrei griff zum Glas. Sie prosteten einander zu. Die Krankenstube des Oberleutnants lag im ersten Stock. Vom Fenster aus konnte man den durch eine dicke Naturhecke abgetrennten Privatteil des Klosterkomplexes beobachten, und das war ein beliebter Zeitvertreib für die Verwundeten, sobald der Besitzer auftauchte, ein großer dünner Mann mit spitzer Nase und gebleichten Haaren. Ein pigmentarmer Typ, dem man ansah, daß er die Sonne mied. Offensichtlich war er mehr Salonmensch als Frischluftanhänger, wiewohl er sich wie ein Herrenreiter gab, stets korrekt gekleidet: Maßanzug, Maßhemd, Maßschuhe, Seidenkrawatte, Einstecktuch. Immer wurde er von einem hübschen, vielleicht zwanzigjährigen Jungen begleitet, der einem ausgewachsenen Botticelli-Engel glich.
Der Hausherr hatte den Arm um die Schultern des leicht widerstrebenden Jungen gelegt.
»Der Kerl ist parfümiert vom Scheitel bis zur Sohle«, nörgelte der Gorilla. »Der muß schwul sein. Das riech' ich noch hundert Meter gegen den Wind.« Er sah grinsend dem Hageren mit dem Jüngling nach, die wie ein Liebespaar durch die Zypressenallee schritten.
Und dann vergingen ihnen die Witze, denn der Gefechtslärm rückte immer näher. Sie richteten ihr kärgliches Fluchtgepäck zurecht: eine Feldflasche Wasser für jeden, Kommissbrot und Büchsenwurst und das Wichtigste: die Waffen.
Bruno ging noch einmal in den Garten; er wollte allein sein, um Abschied zu nehmen. Er saß an der Trennhecke und verfolgte das Wetterleuchten am Himmel. Plötzlich brach der Gefechtslärm ab. Jetzt erst merkte Bruno, daß das gleichgeschlechtliche Liebespaar, nur durch die Hecke getrennt, nebenan in der Laube saß.
»Bisogniamo partire, Mario«, sagte der Baron zu dem Botticelli-Verschnitt.
»Quando?« fragte der Junge.
»Subito – durante la notte.«
Ohne es zu wollen, hörte Bruno das Gespräch mit und erfuhr so zwangsläufig, daß der Baron und sein Herzbube noch in der Nacht abreisen würden.
»Und wie weit werden wir fahren?« fragte Mario.
»Zunächst bis Milano, dann nach Südtirol. Anschließend mache ich einen Abstecher in die Schweiz, danach muß ich nach Deutschland, wegen meiner Scheidung und einiger geschäftlicher Abwicklungen.«
»Und dann?« fragte der Junge.
»Komme ich zurück.«
»Und wenn dir – Gott bewahre – etwas zustoßen sollte?«
»Es ist alles geregelt«, erwiderte der Baron. »Niemand wird dir das Gebäude streitig machen. Es ist neutraler Besitz. Lass dich von den Alliierten in Südtirol überrollen«, riet er. »Der Krieg wird bald aus sein. Rechtsanwalt Dr. Vanoni, dein tüchtiger Onkel und Super-Advokat, ist über alles im Bild. Er wird auch die Adoption regeln«, setzte der Edelmann hinzu. »Nach meinem Testament wirst du einer der reichsten Erben Italiens sein – in Siegerwährung.«
Bruno Panizza hatte genug von dem Gespräch und ging in das Gebäude zurück. Die Nacht mußten sie im Keller verbringen. Bombenabwürfe ganz in der Nähe, doch sie brauchten sie nicht zu fürchten. Das Gewölbe hielte jedem Einschlag stand. Auch bei dem völlig zerstörten Cassino-Kloster hatte das dicke alte Gemäuer der Sprengkraft der Bomben
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