Pink Christmas (German Edition)
treffen.
Sie zeigt sofort auf Stange. Er mache eine gute Figur mit der Mütze, sagt sie ihm mit Überzeugung und lacht … auch habe er Fantasie, wie sie weiß. Schließlich sei er Journalist gewesen, meint sie und macht andere auf ihn aufmerksam. Dabei hatte er bisher dafür gesorgt, nicht aufzufallen, hatte überall durch Abwesenheit geglänzt. Der Umzug hatte ihn bisher voll in Anspruch genommen.
Er erschrickt, als sich einhundert Augenpaare auf ihn richten.
Woher will sie seine Fantasie kennen? Dann hören alle, wie sie sagt: „Wer weiß, wie lange man noch solche Vergnügen mitmachen kann.”
Was für eine Unverschämtheit.
Der Satz dröhnt in seinem Kopf nach. Es stimmt, er wird in zwei Jahren achtzig. Seine Bewegungen sind wirklich nicht mehr so forsch wie früher, er vergisst manches, muss sogar Gefühlseinschränkungen hinnehmen. Aber bedeutet das schon das Ende?
Stange erhebt sich, wartet bis Ruhe eingetreten ist, sagt dann in sachlichem Ton - allerdings aufgeregt - angesichts seiner Situation lehne er die Erfüllung der Bitte ab. Im nächsten Jahr vielleicht …
„Lieber Herr Stange”, säuselt Schwester Vera scheinheilig. „Sie haben wohl nicht begriffen, in einer sozialen Einrichtung zu sein. Einer ist für alle da und alle für einen!”
Stange erstarrt zur Salzsäule, steht stocksteif hinter seinem Stuhl. Ich und nicht begreifen? Im Saal herrscht Stille, aber auch Betroffenheit. Viele der Mitbewohner haben sehr wohl begriffen, was für eine Demütigung in diesen Worten steckt.
Stange bleibt Gentleman, würdigt Schwester Vera keines Blickes, verlässt die Menge - die Hälfte seines Frühstücks bleibt unberührt - schreitet erhobenen Kopfes und elegant aus dem Saal.
Zurück bleiben eine empörte Schwester und ratlose Heiminsassen.
Stange geht seine mitgebrachten Bilder durch.
Erst eine Motivauswahl vornehmen, hatte die Galeristin empfohlen, dann die Farben aufeinander abstimmen, wenn mehrere Bilder nebeneinander aufgehängt werden sollen, und schließlich Plätze suchen, Nägel in die Wand treiben, die Rahmen richten.
Stange hält die elegant über die aufgebrachte See fliegende Möwe in der Hand. Es ist die erste von fünfzig Lithografien des Künstlers, der mit diesem Bild die Genehmigung zum Druck erteilt hat. Instinktiv geht er mit ihr in den Flur. Er will sie täglich wahrnehmen, wenn er die Wohnung betritt. Das Bild spiegelt seine Gefühle wieder: Frei wie ein Vogel in der Weite der Landschaft sein, Gedanken bei sich behalten, Geheimnisse bewahren. Sie war das Lieblingsbild von Adrian, seinem Stiefsohn, seine zweite Frau hatte den Jungen als Fünfjährigen in die Ehe mitgebracht.
Adrian nannte das Motiv Aushängeschild der Nordsee.
Sein leiblicher Sohn hat ein Geschrei um das Bild gemacht! Er hasste alles, was Adrian mochte. Er hasste auch ihn. Die Jungen hatten sich nie verstanden, weiß der Kuckuck, warum.
Stange hängt das Bild geschickt in Augenhöhe unter den Wandstrahler direkt gegenüber der Eingangstür auf. Für jeden ein Blickfang. Sein Sohn wird zetern!
Dass dieser ihn nicht …
Dessen Entscheidung lässt ihm immer noch keine Ruhe. Kaum rückt sie in sein Bewusstsein, hat er seinen Filius unmittelbar vor Augen. Wie schon so oft … Es tut weh, wenn man seine abweisende Haltung betrachtet und seine nicht vertrauensvolle Miene beobachtet, die dem Vater sagen will: Nimm dich zusammen.
Stange weiß, was folgt: Herzflimmern!
Schnell an etwas anderes denken, das waren die Worte des Arztes. An einen himmlischen Urlaub, an eine Freundin, an einen Freund. Alles schon abgegrast, wehrt Stange ab.
Er kann seine Gedanken nicht verbannen.
Stechen in der Brust, das nächste Symptom, Stange braucht nur zu warten. Tatsächlich, es ist soweit. Das ungeduldige Herz zieht Angst nach sich, sie löst einen Schwelbrand aus. Immer dasselbe. Nicht aufregen! , meinte der Untersuchungsarzt. Leichter gesagt als getan.
Der Schmerz lässt sich nicht steuern. Breitet sich meist nach allen Seiten aus. Aus einer winzigen Flamme wird ein Flächenbrand.
Letzte Hilfe?
Nitro.
Stange fummelt in der Jackentasche herum. Da bewahrt er eine Flasche immer auf. Ja, er verfügt über mehrere, eine befindet sich in seinem Rucksack, eine weitere im Kühlschrank, man kann nie wissen.
Dreimal sprühen!
Stange überwindet sich, am Spielnachmittag in der Bibliothek teilzunehmen. Es ist das erste Mal. Gut angezogen, ein weißes Nehruhemd, eine Kubakappe, ein blauer Pashminaschal, ein Boardcase Hose von
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