Pink Christmas (German Edition)
notdürftig versteckt. Kalte Winde fegten über die Steppe, heulten in die Einsamkeit der kurzen Tage und längsten Nächte des Jahres und zerrten an allem, was lebte oder schon tot war. Doch der Mann schien nichts davon zu bemerken. Er war ohne Waffen und ohne Proviant, und offensichtlich ganz allein. Jedenfalls vermutete Tschunka das, nachdem er ihn über zwei Stunden lang reglos im Gesträuch verborgen beobachtet hatte. Schließlich hielt Tschunka es nicht mehr aus und pirschte sich ganz langsam und geräuschlos bis zur äußersten Grasnarbe den Hügel hinauf. Er robbte auf dem Bauch, gewandt wie eine Schlange und umsichtig wie ein Kojote.
Tschunka betrachtete den Fremden aufmerksam, doch er konnte nicht erkennen, zu welchem Stamm er gehörte. Der Fremde trug keine Feder, keine Bemalung, keinen Schmuck, der ihn als Mitglied irgendeines Stammes auswies. Seine Tunika war wohl ursprünglich mit Perlen und Stachelschweinborsten reich verziert gewesen, doch jetzt starrte das einst weiche Leder vor Schmutz. Die Leggins waren zerschlissen, und Mokassins trug der Fremde trotz der beißenden Kälte, die schon seit einigen Wochen den Boden zu durchdringen begann, längst nicht mehr. Keine wärmende Decke, die seine nackten Schultern bedeckte, kein Fell, das sein Haupt vor den ersten Schneeflocken schützte. Dennoch – an dem ungewöhnlichen Schnitt der wenigen Kleidung und der besonderen Art, wie die Fransen in die Nähte eingesetzt, die Stickereien angebracht waren, erkannte Tschunka, dass der Fremde von weit her kommen musste.
Im Umkreis von zwei Wanderwochen siedelten nur Crows, der Stamm, dem auch Tschunka angehörte. Die Nachricht von einem halbnackten Indianer, der in der nahenden Kälte schutzlos in der Wildnis umherstreunte, hätte sich unter den Stammesbrüdern rascher verbreitet als der Geruch der Büffelherden im Frühjahr. Aber wie war dieser Unbekannte von allen umliegenden Siedlungsbewohnern unbemerkt hierher gelangt? Und warum? Schlief er? War er ohnmächtig? Oder täuschte er ihn nur, wiegte ihn in falscher Sicherheit, um in einem unbeobachteten Moment aufzuspringen und ihn anzugreifen?
So viele Fragen huschten durch Tschunkas Kopf wie blitzgewandte Eidechsen, dass er die Wichtigste kaum einfangen konnte: Wie lange mochte der Fremde schon so daliegen, reglos und mit seltsam abgespreizten Gliedmaßen? Es war bereits früher Nachmittag, und die matte Sonnenscheibe hatte sich hinter einen Schleier aus grauweißen Nebeln verkrochen, die ihr auch das letzte bisschen Wärme stahlen. Es roch nach Schnee, den der Wind gewiss noch in dieser Nacht bringen würde. Der blanke Rücken des Fremden war mit einer dicken Gänsehaut überzogen, doch kein Muskel zitterte. Nicht die kleinste Bewegung verriet einen Atemzug, kein Zucken das Bedürfnis nach Entlastung der angespannten Gliedmaßen. Natürlich konnte jedes Mädchen den Atem lange Zeit anhalten, und absolute Reglosigkeit mussten schon die kleinsten Kinder beherrschen, wollten sie in Gefahrensituationen überleben.
Doch dieser Mann regte sich schon seit Stunden nicht mehr, und mit einem Mal wurde Tschunka bange. Angst jedoch durfte er nicht zulassen. Sie durfte ihn lediglich begleiten, um zur Vorsicht zu mahnen, nicht jedoch sein Handeln führen, damit er nicht die Kontrolle über das Hier und Jetzt verlor. Also schluckte er das bittersüße Gefühl in seiner Kehle wieder bis tief in den Bauch hinunter und atmete ganz leise tief durch. Er musste es jetzt wissen!
Mit einem gewandten Satz sprang er aus seiner Deckung, warf sich auf den bewegungslosen Körper und nagelte ihn mit seinen Händen und Füßen fest. Dabei war er völlig stumm, und bis auf ein leises Scharren seiner Mokassins auf dem angefrosteten Boden machte er bei seinem Angriff keinerlei Geräusche. Er hatte eine heftige Gegenwehr erwartet, einen Fußtritt oder Fausthieb, wütendes Gerangel, zumindest aber ein Aufkeuchen oder sonst irgendeine Reaktion des erstaunten Schreckens. Doch der Mann blieb still und stumm unter ihm liegen, die Arme schlaff und kraftlos, die Beine ohne jeden Antrieb. Verunsichert lockerte Tschunka seinen Griff, ohne jedoch ganz loszulassen. War der Fremde vielleicht tot? In diesem Fall wäre sein kraftstrotzender Angriff reichlich übertrieben gewesen. Die Vorsicht gebot ihm, zunächst am Hals nach dem Puls zu fühlen: nichts. Er legte die flache Hand zwischen die knochigen Schulterblätter des Fremden: kein Atem. Dafür spürte er umso deutlicher die kühle Rauheit der Haut
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