Pink Christmas (German Edition)
das der große Manitu seinen Kindern mit auf ihren Weg gegeben hatte, damit sie niemals vergaßen, was Achtung und Demut bedeuteten, Treue und Verpflichtung seiner Schöpfung zu Ehren. Dies hatte ihn sein Vater, der Häuptling seines Stammes, gelehrt und soweit Tschunka wusste, galt die Lebensschuld bei jedem Indianer und in jedem Stamm.
Auf diese Lehre vertrauend, beobachtete er nun stumm, wie die ersten Tropfen des lebensspendenden Wassers die aufgeplatzten Lippen des Fremden benetzten und schließlich ihren Weg in die ausgedörrte Mundhöhle fanden. Der Schluckreflex setzte ein, ließ den harten Kehlkopf auf- und niedertanzen. Der Anblick hatte etwas Magisches, fast Verführerisches an sich, obgleich Tschunka solche Gefühle bisher noch relativ fremd waren. Mit seinen achtzehn Sommern hatte er noch bei keiner Frau gelegen, und auch den geheimen und doch jedem Jüngling bekannten Ausguck am Badeteich der Frauen hatte er nur selten aufgesucht. Doch der Anblick dieser schmalen, feucht glänzenden Lippen löste mit einem Mal ein seltsames Begehren in ihm aus, das weiter zu ergründen er zunächst einmal nicht wagte.
Nach nur wenigen Tropfen zog er den Beutel zurück, denn zuviel Wasser würde den Kreislauf des Fremden kollabieren lassen. Abgesehen davon musste der Mann schleunigst an einen geschützten Ort gebracht werden, denn der Wind verstärkte sich und fegte ungehindert mit eisiger Faust über die Hügelkuppe. Tschunka hielt sich schon seit zwei Tagen in dieser Gegend auf und wusste daher, dass es weit und breit in der graubraunen Steppe keinen Baum und kaum hohe Büsche gab, die Schutz geben konnten. Der stetige Westwind des Sommers hatte die Sträucher und Halme niedrig gehalten. Aber zumindest musste er seinen Schutzbefohlenen auf die windabgekehrte Seite und zu Füßen des Hügels bringen. Dort würde sich aus den Resten des vertrockneten Grases und einigen ausgerissenen Sträuchern eine notdürftige Unterkunft bauen lassen.
Unter größter Anstrengungen zog er den noch immer reglosen Körper vorsichtig den Hügel hinab. Die fahle Sonne war bereits ein weiteres Stück dem Horizont entgegengeeilt. Nach einigem Suchen fand Tschunka eine geeignete Mulde, in die er den Fremden bettete.
Als Tschunka schließlich schwer atmend mit dem Lagerbau innehielt, um auszuruhen, war die Kühle der kurzen Abenddämmerung bereits von den kalten Fingern der Nacht beiseite gewischt worden und eine Gänsehaut überlief ihn. Im Grunde war er noch nie völlig allein so weit von den Tipis seines Stammes entfernt gewesen - immer hatte er Freunde oder Familienangehörige in der Nähe gewusst. Jetzt nichts als die unendliche Weite der wilden Steppe um sich zu spüren, ließ ihn leise erschauern. Doch er fürchtete sich nicht wirklich, denn die Wildnis war sein Zuhause.
Und die absolute Einsamkeit war notwendig, um den Weg zu Manitu zu finden, ihn sprechen zu hören und dann zu sich selbst zu finden. Stille und Entbehrung sollten ihm dabei helfen, die innere Reinheit und Freiheit zu gewinnen. Doch nun waren schon zwei Tage verstrichen, ohne dass Tschunka eine wesentliche Veränderung in sich gespürt oder etwas Ungewöhnliches entdeckt hätte, außer dass die Kälte langsam von ihm Besitz ergriff und der Hunger ihn schwindlig machte. Selbst die wilden Tiere schienen sich in ihre Höhlen und Baue zurückgezogen zu haben; bisher hatte Tschunka weder einen Wolf noch eine Maus gesehen. Nichts Außerordentliches bis auf den bewusstlosen Krieger neben sich, der das Gebot der Einsamkeit nun zunichte machte.
Tschunka seufzte. Würde das Ritual jetzt ungültig sein? Doch abbrechen konnte er es ohnehin nicht. Zumindest musste er warten, bis der Unbekannte zu Bewusstsein kam, um zu erfahren, woher er kam und welche Absichten er verfolgte. Dann würde er entscheiden, ob er ihn ins Dorf bringen oder aber hier seinem Schicksal überlassen und Alarm schlagen sollte.
Tschunka warf einen Blick zum schwarzen Himmel hinauf, von dem die Sterne kalt und klar auf ihn herabfunkelten. Dies waren die Tage der Wintersonnenwende, in denen das alte Jahr starb und zugleich das neue gebar. Und weil es dabei viel lebensspendende Energie benötigte, waren die Tage kurz und hatte die Sonne so wenig Kraft übrig für ihre Erdenkinder. Aber dies alles geschah nach dem Willen Manitus, den Tschunkas Volk verehrte. Anderswo feierten andere Erdenkinder zur gleichen Zeit eine andere Geburt, einen anderen Gott; doch davon wusste Tschunka nichts. Er betete zu seinen
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