Piraten der Karibik - Exquemelin, A: Piraten der Karibik
eines Daumens Länge von dem Pulver entfernt – fehlte also wenig, daß sie mitsamt dem Kastell in die Luft geflogen wären. Morgan ließ das Pulver sofort aus dem Kastell herausbefördern und die Mauern niederreißen, soweit das nötig war, um alle Stücke über den Haufen zu werfen. Man fand dort sechzehn Kanonen, die acht-, zwölf- und vierundzwanzigpfündige Kugeln schossen, ferne achtzig Musketen und sonstige Munition in angemessenem Verhältnis. Die Stücke wurden vom Kastell hinuntergeworfen, die Lafetten verbrannt. Des nächsten Morgens kamen die Schiffe herein, und das Pulver ward unter alle Schiffe, welche bestückt waren, aufgeteilt; die vom Kastell heruntergeworfenen Stücke wurden vernagelt und im Sand vergraben. Die Mannschaft ging darauf unverzüglich zu Schiff, um auf das schleunigste die Stadt Maracaibo zu erreichen; allein das Wasser war auf der Sandbank an der Einfahrt des Sees so niedrig, daß die Schiffe nur mühsam da durchkommen konnten, und einige stecken blieben. Um jedoch keine Zeit zu verlieren, wurde das Schiffsvolk auf die übrigen Fahrzeuge, so geringeren Tiefgang hatten, gebracht, um so nach der Stadt zu gelangen. Tags darauf gegen Mittag kamen sie allesamt vor die Stadt Maracaibo und hielten sich mit ihren Fahrzeugen dicht an das Gestade, damit sie unter dem Schutz ihrer geringen Bestückung die ganze Mannschaft an Land zu bringen vermöchten. Allein das gelang ebenso unschwer wie beim Sperrfort: denn die Spanier waren allesamt in den Busch geflohen und hatten die Stadt ihrem Schicksal überlassen; nur einige arme gebrechliche Leute waren zurückgeblieben, die nicht gehen konnten, noch etwas zu verlieren hatten.
Nachdem die Räuber in die Stadt eingedrungen waren, hielten sie überall Nachschau, ob nicht irgendwo Streitmacht verborgen läge, sei es in den Häusern oder in den Wäldern rings um die Stadt; wie sie aber nichts Verdächtiges fanden, nahm jede Kompanie oder Schiffsbesatzung auf dem Marktplatz ihr Quartier; die große Kirche wurde zu einem Corps de Garde umgewandelt, in welchem beständig Wache gehalten wurde. Eine nähere Beschreibung der Stadt Maracaibo will ich an dieser Stelle nicht geben, weil ich das gelegentlich des Berichts über ihre Einnahme durch Lolonois getan habe. Noch an demselben Tage, an dem die Räuber in die Stadt gekommen waren, ward sogleich eine Partei von etwa hundert Mann ausgeschickt, um Beute und Gefangene zu holen. Am nächsten Abend kamen sie wieder mit etwa fünfzig Saumtierlasten geraubten Guts und ungefähr dreißig Gefangenen: sowohl Männern und Frauen und Sklaven. Diese Gefangenen wurden in der gewohnten Art gefoltert, um aus ihnen herauszupressen, wohin die Einwohner der Stadt geflüchtet wären. Der eine ward gewippt und geschlagen, der andere gleich dem heiligen Andreas traktiert mit brennenden Lunten zwischen Fingern und Zehen; wieder einem anderen ward ein Tau so fest um den Kopf geschnürt, dass ihm die Augen so dick wie Hühnereier vorquollen; wer nichts sagen wollte, wurde vollends totgeschlagen, da sie keine ärgeren Martern mehr ausmitteln konnten. Dies währte ungefähr drei Wochen. Die Räuber zogen unterdes täglich auf Streife und brachten stets große Beute mit, so daß sie denn keineswegs leer ausgingen. Nachdem sie etwa hundert von den vornehmsten Familien Maracaibos gefangen genommen und deren Habe geraubt hatten, beschloß Morgan, nach Gibraltar zu ziehen. Eilends wurden sämtlich Schiffe bereit gemacht und Beute wie Gefangene darauf verschifft; dann wurden die Anker gelichtet und ward Kurs auf Gibraltar genommen mit allen zu einem Kampf erforderlichen Vorbereitungen, wobei jedem seine Aufgabe zugewiesen war. Einige von den Gefangenen waren ausgesandt worden, um an Land zu gehen und in Morgans Namen die von Gibraltar zur Übergabe aufzufordern – so wie sich aber hartnäckig erweisen sollten, würde ihnen keine Verschonung gewährt werden. Die Räuber machten sich nämlich auf keinen besseren Empfang gefaßt als zwei Jahre zuvor die Franzosen erfahren hatten.
Nach mehrtägiger Segelfahrt kamen Morgan und die Seinen in Sicht von Gibraltar, von wo sie die Spanier mit groben Kanonen wacker zu beschießen anhuben. Die Räuber aber, anstatt sich zu alterieren, begannen einen neuen Mut zu schöpfen: denn – sagten sie – wo es Stöße setzt, da wird’s auch Beute geben, die seien dann der Zucker, den sauren Brei zu süßen. Am nächsten Tage beim ersten Morgengrauen wurde das Schiffsvolk an Land gesetzt, und anstatt daß
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