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Piratenmond - Wooding, C: Piratenmond - Retribution Falls

Piratenmond - Wooding, C: Piratenmond - Retribution Falls

Titel: Piratenmond - Wooding, C: Piratenmond - Retribution Falls Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Chris Wooding
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Gefährten, wie die vor ihnen und die davor. Jez wahrte Distanz zu ihnen. Dann würde es nicht so wehtun, wenn sie gehen musste.
    Früher oder später würden sie merken, dass etwas an ihr anders war. Die Kleinigkeiten würden sich summieren. Dass ihre Schusswunde so schnell verheilt war, dass sie nie zu schlafen, nie müde zu werden schien. Wie Tiere auf sie reagierten.
    Dann musste sie weiterziehen und sich eine neue Crew suchen. Immer weiter.
    Weiter wohin? Um was zu tun?
    Irgendwohin. Irgendwas. Einfach weiter.
    Sie trank ihren Kakao. Derzeit aß oder trank sie nur, weil sie den Geschmack mochte, nicht, weil es nötig gewesen wäre. Im Monat Schwalbenernte hatte sie versuchsweise eine Woche lang völlig auf Nahrung und Wasser verzichtet. Nichts war passiert; sie hatte nur das vage, instinktive Gefühl
gehabt, dass in ihrem üblichen Tagesablauf etwas fehlte. Danach hatte sie darauf geachtet, sich bei den Mahlzeiten zur Crew zu gesellen und hin und wieder Bemerkungen über ihren Hunger oder Durst gemacht; aber sie aß wenig, weil sie von Natur aus nicht verschwenderisch war.
    Die Schneeschweine zockelten über die Eisfläche, schwerfällig dahinschlurfende Haufen aus Muskeln, Hauern und zottigem weißem Fell. Jez sah zwei Raubtiere, die ihnen folgten, riesige, hundeartige Geschöpfe, Kreaturen, die sie nicht kannte. Sie liefen mit großen Schritten hungrig dahin und hofften auf eine Chance bei einem Nachzügler.
    Da bin ich wieder, dachte sie, während sie den Blick über die Landschaft schweifen ließ. Vor ein paar Jahren hatte sie die wilde, vereiste Nordküste häufig besucht, als Teilnehmerin einer wissenschaftlichen Expedition, die nach den Überbleibseln einer untergegangenen Zivilisation forschte. Sie hatte nicht bewusst entschieden, Yortland fernzubleiben, aber erst jetzt wurde ihr klar, dass sie nicht mehr hier gewesen war seit … seit …
    Ihre Gedanken zuckten vor der Erinnerung zurück, aber es war zu spät. Ein schreckliches Gefühl spülte über sie hinweg; es begann in ihrem Genick und flutete durch ihren ganzen Körper. Ihre Haut straffte und entspannte sich, ihre Muskeln verkrampften sich und lösten sich wieder. Die Welt verformte sich kaum merklich, und als sie wieder Gestalt annahm, war alles anders.
    Ein seltsames Zwielicht hatte sich herabgesenkt. Obwohl es dunkler als vorher zu sein schien, war ihr Sehvermögen schärfer geworden. Es war, als hätte sie die Welt durch eine beschlagene Glasscheibe betrachtet, die plötzlich entfernt worden war. Details drängten sich geradezu auf; Ränder wurden rasiermesserscharf.

    Die Herde der Schneeschweine war von einer schwachen, kribbelnden, ins Violette spielenden Aura umgeben. Obwohl sie etliche Kloms entfernt waren, konnte sie ihre Zähne zählen und die Pupillen ihrer rollenden Augen sehen. Sie spürte den schwachen Wind, der über die Ebene jagte; sie sah seine Bahn vor ihrem geistigen Auge.
    Da war so viel, was sie spürte, hörte, roch. Der Ansturm von Informationen nahm ihr beinahe den Atem. Es fühlte sich an, als würde sie von einem unwiderstehlichen Strom erfasst, der gegen sie anbrandete. Jeden Moment würde sie den Halt verlieren und in die Bewusstlosigkeit geschwemmt werden.
    Eines der Raubtiere rannte auf einmal los. Seine Aura war von einem tiefen Purpurrot, und es hinterließ beim Laufen eine Spur, die sich langsam auflöste. Dann war sie auf einmal bei dem Räuber, in dem Räuber, sein Blut pumpte heftig, das Herz hämmerte, Zunge-draußen, Zahn-scharf, nichts als Tatzen und schau da ja ja ja, das da ist schwach, dieses eine, und mein Sippen-Bruder neben mir und Vorsicht vor den spitzen Hauern der Mutter aber oh oh der Hunger …
    Jez sog scharf die Luft in die Lungen, wie eine Ertrinkende, die gerade die Wasseroberfläche durchbrochen hatte. Die Realität rastete abrupt wieder ein: Die Welt war wieder so, wie sie immer gewesen war. Schnee rieselte herab, unberührt von ihrer Panik. Desorientiert trat sie einen Schritt zurück; sie wollte nicht mehr an diesem Rand des Plateaus stehen. Der Becher war ihr aus den Händen gefallen und lag vor ihr auf dem Boden. Brauner, dampfender Kakao fraß sich ins Eis.
    Sie begann hilflos zu zittern, aber nicht vor Kälte. Sie schlang sich die Arme um den Leib und schaute sich um. Der Yort war verschwunden. Niemand war da. Niemand hatte es gesehen.
    Hatte was gesehen?, fragte sie sich. Was geschieht mit mir?

    Ein Windstoß kam von Norden, und da war ein Geräusch im Wind, das sie eher spürte als

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