Piratin der Freiheit
voraus. Das schwere Steuerruder
war plötzlich nur noch ein absurdes überflüssiges Stück Holz.
Seeleute, die gelassen Wirbelstürmen und turmhohen
Wellen getrotzt hatten, fühlten sich jetzt wie wehrlose Kinder. Ein sanfter Fluß spielte mit ihnen, drohte sie ans nahe Ufer zu werfen, um sie dort gefangenzuhalten und der Gnade ihrer Feinde auszuliefen. Einige lange Minuten, die ihnen vorkamen wie Stunden, liefen daher zweihundert Männer kopflos hin und her.
»Focksegel hissen und Ruder steuerbord!« brüllte
schließlich der Venezianer. Der war bleich geworden, als er den Verlust jeglicher Manövrierfähigkeit entdeckt hatte. »Entweder bringen wir den Bug nach Süden, oder wir laufen auf Grund. Ihr da…! Bindet dieses Tau an die Kanone und werft sie über Bord.«
»Über Bord?« fragte der Verantwortliche für besagte Kanone erschreckt. Der seltsame Befehl schien ihm un-verständlich. »Warum?«
»Diskutiere nicht, sondern mach, was ich dir sage,
Idiot!« Kapitän Buenarrivo lehnte sich über die Reling des Achterkastells und rief den drei Männern zu, die vergeblich versuchten, ihre Musketen nachzuladen:
»Laßt das und bindet das andere Tauende an das Heck!
Schnell!«
Der Befehl wurde sofort ausgeführt: Die riesige Ka-
none stürzte ins Wasser und versank wie Blei. Einige Meter schleifte sie noch über den Grund, bis sie im dichten Schlamm steckenblieb.
Das Tau spannte sich, ächzte jämmerlich, als wollte es in tausend Stücke zerspringen, aber es hielt dem Zug stand, mit dem Erfolg, daß sich die schwere, jetzt am Heck verankerte Galeone langsam um ihre eigene Achse drehte und dabei gefährliche Schlagseite bekam.
Jeder Mann klammerte sich an das, was ihm am näch-
sten war, während die Dama de Plata vom Kiel bis zum Mastkorb knirschte, allmählich mit dem Bug nach Sü-
den drehte und damit wieder der Strömung folgte.
Noch immer regnete es.
Sintflutartig.
Jetzt aber schüttete es auf ein schweres Schiff, das man schon fast wieder unter Kontrolle hatte wie ein bockiges Pferd, das man mit dem Zaumzeug bändigte,
auch wenn dieses »Zaumzeug« jeden Augenblick rei-
ßen konnte.
Nun erst konnte der größte Teil der Besatzung hinter sich sehen. Erleichtert stellten sie fest, daß die Krieger sich dazu entschlossen hatten, ihre wilde Attacke für einen Augenblick zu unterbrechen.
Wie eine Heuschreckenplage hatten sie sich auf die
wehrlose Fregatte gestürzt, die bereits über eine halbe Meile entfernt war, und inzwischen glich das Schiff einer treibenden menschlichen Masse.
Die Männer Mulay-Alis drängten sich an Deck, klet-
terten auf die Masten, balancierten auf den Mastbäumen und Strickleitern, stießen enthusiastisches Sieges-geheul aus und reckten ihre Waffen in die Luft. Inzwischen näherten sich weitere Boote von flußaufwärts der Fregatte, gingen längsseits und ließen ebenso begeistert die jubelnde Riesengestalt von Ian MacLean hochleben, der sich selbstzufrieden und stolz am Steuerruder zeigte und glücklich über den überwältigenden Sieg lächelte.
»Dein Vater hatte recht…«, flüsterte Gaspar Reuter
Celeste Heredia ins Ohr, die mit tränenfeuchten Augen die entmutigende Szene verfolgte. »Es wäre ein prächtiger Köder gewesen!«
»Bist du sicher, daß die Lunten wirklich feucht geworden sind?« wollte das verbitterte Mädchen wissen, das binnen Minuten um zehn Jahre gealtert schien. »Gibt es keine Hoffnung mehr, daß sie Feuer fangen?«
»Keine, meine Kleine. Ich habe sie selbst ausgelegt und leider nicht im Traum daran gedacht, daß es derart schütten könnte.«
»Wie schade! Es wäre ein großartiges Schauspiel ge-
wesen, zu sehen, wie sie in die Luft fliegt.« Plötzlich verzerrte sich das schöne Antlitz Celestes, während sie sich nach allen Richtungen umsah. »Wo ist mein Vater?« wollte sie wissen. »Wo ist er?«
Der Engländer wurde ebenso unruhig, ließ seinen
Blick über Deck schweifen, und kurz darauf stürzte er in die Offiziersmesse. Als er wieder auftauchte, schüttelte er den Kopf.
Celeste Heredia beugte sich sofort über die Reling und rief hinunter:
»Mein Vater! Hat jemand meinen Vater gesehen?«
Die demoralisierten Männer schauten sich an, als
wollte jeder in seinem Nachbarn die Züge von Miguel Heredia sehen. Schließlich zeigte der Portugiese Silvino Peixe zur schon fernen Sebastian hinüber und rief:
»Das letzte Mal habe ich ihn gesehen, wie er in die Pulverkammer hinunterstieg!«
»Gütiger Himmel!« schluchzte das
Weitere Kostenlose Bücher