Piratin der Freiheit
Ratten! Hunderte, wenn nicht Tausende von Ratten.«
Er dachte einige Augenblicke nach, dann rief er seinem Adjutanten zu:
»Beidrehen!«
Wieder ertönte ein Pfiff, der alle aufhorchen ließ.
»Segel reffen! Schiff beidrehen!«
»Warum das…«, wollte Miguel Heredia sofort wissen.
»Wir sollten uns aus dem Staub machen. Es ist die
Pest.«
»Ein Grund mehr, nicht zu fliehen«, erwiderte der Kapitän barsch. »Weil es die Pest ist. Für Panik ist jetzt keine Zeit mehr. Auf diesem Schiff wütet die schlimmste Seuche der Menschheit, das muß uns allen klar sein.
Wenn es das Festland erreicht, ist die Verheerung nicht abzusehen.« Er machte eine vielsagende Pause, bevor er fast flüsternd hinzufügte: »Das können wir nicht zulassen.«
»Wollt Ihr etwa damit sagen…?« Celeste Heredia
wagte es nicht, den Satz zu beenden. Allein beim Gedanken daran fuhr ihr der Schreck in die Glieder.
»So ist es, Senora!« versetzte der Venezianer bedauernd. »Wind und Strömung treiben sie in drei, vier Tagen an die Küste. Dann tragen diese Menschen und
Ratten Tod und Vernichtung bis in den letzten Winkel des Kontinents.«
»Wollt Ihr sie vielleicht…?«
»Versenken…?« Der kleine Mann nickte und runzelte
die Stirn. »Als Kapitän würde ich keinen Augenblick lang zögern.« Er hielt kurz inne. »Aber in diesem Fall liegt die Entscheidung bei Euch.«
»Aber es gibt Überlebende…!«
»Nein, Senora! Keine Überlebenden!« widersprach ihr der andere. »Nur noch >lebende Tote<, die nicht sterben wollen. Und sie werden den Pesthauch mitnehmen, wohin sie auch gehen. Auf See gibt es ein ungeschrie-benes Gesetz, Senora. Es ist wahrscheinlich das grau-samste, das es gibt, vielleicht aber auch das humanste.
Jedenfalls für alle, die weit von hier nichts dafür können, daß Sklavenhändler ihre Fracht unter so un-
menschlichen Bedingungen transportieren.«
»Und wie lautet dieses Gesetz?«
»Um jeden Preis verhindern, daß ein Schiff, das die Pest an Bord haben könnte, einen Hafen erreicht.«
»Und was bedeutet dieses >um jeden Preis«
»Es bedeutet alles.«
Sie hatten etwa eine Meile vor dem grauenvollen To-
desschiff, von dem weder Namen noch Nationalität
auszumachen war, beigedreht, und zwar luvwärts. So
konnte die sanfte Brise Leichengestank und Pesthauch nicht herüberwehen. Bald mußten sie feststellen, daß einer der winkend um Hilfe flehenden Unglücklichen
plötzlich ins Meer sprang und auf die Dama de Plata zuschwamm.
Er war zweifellos ein großartiger Schwimmer. Rhyth-
misch und kraftvoll kraulte er auf das Schiff zu, denn er wußte, daß dieses sein rettender Strohhalm war. Nicht einmal das halbe Dutzend Haiflossen, das ihn umkrei-ste, schien ihn zu kümmern, so besessen war er davon, sein Ziel zu erreichen. Fassungslos starrte ihn die Mannschaft an.
»Was sollen wir machen, Senora?« wollte der Vene-
zianer wissen. Er war vor Sorge wie verwandelt.
»Nichts.«
»Ich kann nicht zulassen, daß er an Bord kommt.«
»Das verstehe ich, Kapitän, aber wir werden nichts
unternehmen.« Das schöne Antlitz von Celeste Here-
dia, über das so oft ein Lächeln huschte, war zu einer weißen Maske aus Alabaster erstarrt. Ein bitterer Zug spielte um ihre Lippen.
»Gott möge mir verzeihen!« murmelte sie. »Aber nie-
mals hätte ich mir vorstellen können, daß ich mir eines Tages wünschen würde, ein Hai möge in meiner Gegenwart einen Menschen verschlingen.« Sie blickte
Gaspar Reuter an, der die Szene gleichmütig und wortlos verfolgte. »Warum greifen sie ihn nicht an?«
»Vielleicht spüren sie, daß er den Tod in sich trägt.
Oft haben die Tiere einen sechsten Sinn, der uns Menschen verwehrt ist.«
»Selbst Fische?«
»Was wissen wir schon über Fische…!«
Bis zum letzten Matrosen lehnte sich alles über die Reling, um zu verfolgen, wie der Schwimmer immer
näher kam. Als es der Besatzung dämmerte, daß der
Schwimmer durchaus in der Lage war, das Schiff zu
erreichen, begann es auf Deck zu rumoren.
»Tötet ihn, Kapitän!« jammerte eine anonyme Stim-
me. »Tötet ihn, ich bitte Euch!«
»Warnschuß!« befahl der Venezianer.
Eine Feldschlange feuerte. Der Schwimmer verharrte
in gut hundert Meter Entfernung, ruderte erneut mit den Händen und schrie flehend:
»Hilfe! Helft mir bitte!«
»Tut mir leid, mein Sohn!« rief Buenarrivo hinüber, wobei er mit den Händen einen Schalltrichter bildete.
»Ich kann dir nicht helfen! Es ist die Pest!«
»Aber ich bin gesund!« jaulte
Weitere Kostenlose Bücher