Piter - Wrotschek, S: Piter - Metro-Universum: Piter

der Lampen in Neuvenedig wurde tatsächlich mit Zitteraalen betrieben. So auch hier: In einem Dreiliterglas, dessen Deckel innen mit Elektroden bestückt war, lag eines dieser glatten, schwarzen Tiere. Iwan beobachtete ihn. Manchmal wand er sich und zuckte. Wenn er die Elektroden berührte, loderten bläuliche Funken auf. Eine kuriose Erfindung.
    Auf dem säuberlich bezogenen Bett an der Wand lag ein offenes Buch. Was so eine junge Frau wohl las? Iwan riskierte einen Blick. »Cetopolis. Stadt der Wale«, las er. Auf dem Einband stieß ein blauer Wal mit einem riesigen Kriegsschiff zusammen. Winzige menschliche Figuren stürzten ins Wasser.
    »Wovon handelt es?«, fragte Iwan.
    »Von einer Katastrophe«, antwortete Lali.
    »Was?« Iwan sah auf.
    »Nicht von unserer. In dem Buch wollten die Menschen alle Wale ausrotten. Und beinahe hätten sie es geschafft.«
    Das sieht uns ähnlich, dachte Iwan. Ausrotten – davon verstehen wir was. Zuerst die Wale. Dann uns selbst …
    »Ich habe gesehen, wie dein Freund gekämpft hat«, erzählte Lali.
    Iwan nickte und stand auf. Er musste nach dem Oberführer sehen und sich um einen Platz auf der nächsten Fähre zum Newski prospekt kümmern.
    »Du verlässt uns bald«, sagte Lali leise.
    Der Akzent in ihrer klaren, korrekten Sprache kam jetzt stärker durch als sonst.
    Iwan sah sie schweigend an. Er wollte etwas sagen, doch sie stoppte ihn mit einer Geste.
    »Warte.« Ihre Augen glänzten. »Ich muss dich etwas fragen. Ich weiß zwar, was du antworten wirst, aber trotzdem. Wenn ich dich nicht frage, würde es mir doch keine Ruhe lassen.«
    Iwan betrachtete ihre Lippen. Sein Herz krampfte sich zusammen.
    »Liebst du sie? Sie heißt Tanja, habe ich gehört.«
    »Ja«, erwiderte Iwan. »Aber ich habe ihr nie …«
    »Schsch…« Lali legte ihm die Finger auf die Lippen. »Nichts sagen. Sonst hört es jemand und sorgt dafür, dass es nicht in Erfüllung geht. Ich weiß das.«
    Auf seinen Lippen spürte Iwan den feinherben Geschmack ihrer Haut. Er fasste sie am Arm, zog sie an sich und – ließ sie wieder los.
    »Du bist wunderschön«, sagte er, nahm ihre Hand und legte sie auf seine glühende Stirn.
    Wohltuende Kühle. Lali war mit jeder Faser ganz bei ihm. Mit ihrer kühlenden Hand und ihrer Haut. Mit ihren langen Beinen, die fest auf dem Boden standen. Mit ihrem temperamentvollen Wesen. Und mit ihrer Zärtlichkeit.
    Bei ihrem Anblick blieb Iwan förmlich das Herz stehen.
    »Sag so was nicht«, erwiderte sie. »Sonst werde ich eifersüchtig. Nein. Werde ich nicht. Ihr Männer könnt viele Frauen lieben. Aber du bist anders. Für dich ist jede Frau die einzige auf der Welt. Das möchte ich auch sein.«
    Iwan sinnierte.
    »Wo nimmst du nur so viel Lebensweisheit her? Du bist doch höchstens … sechzehn?«
    »Jede Frau ist tausend Jahre alt«, sagte Lali. »Und jede ist siebzehn. Das ist doch ganz einfach.«
    »Ja«, erwiderte Iwan. »Ganz einfach.«
    Als Iwan zur Anlegestelle auf der Hauptinsel zurückkam, fand er dort außer dem Oberführer und Kusnezow noch einen dritten Akteur vor. Er nickte ihm freundlich zu, setzte sich und verriet mit keiner Miene seine Überraschung. Nicht dass er Lalis Bruder nicht ausstehen konnte, aber was, zum Teufel, wollte der hier?
    »Habt ihr schon gehört? DieCaver sind inzwischen völlig durchgeknallt«, sagte Artjom geschäftig.
    Kusnezow und der Oberführer tauschten erstaunte Blicke.
    »Wer soll das denn sein?«, fragte Iwan.
    »Mann, du bist ja echt ahnungslos«, kommentierte Artjom beinahe mitfühlend. Iwans Lächeln geriet etwas sauertöpfisch. Schon erstaunlich, was er sich alles anhören musste von diesem Grünschnabel, der nicht älter als Kusnezow war.
    »Caver – das war früher ein bösartiger Spitzname für Digger, die nichts draufhatten. Inzwischen bezeichnet man als Caver diese Leute, die versuchen, einen Weg aus der Metro zu graben. Nach Finnland rüber. Die Typen glauben wahrscheinlich, dass niemand es für nötig hielt, Atomraketen nach Finnland zu schießen. Dabei vergessen sie leider, dass dort früher eine Radarstation des NATO-Raketenschutzschildes stand. Klar, dass unsere Streitkräfte die unbedingt zerstören mussten. Hat mir mein Vater erzählt. Er war Oberst bei den Strategischen Raketentruppen. Finnland ist also auch ausgelöscht, und die Caver graben völlig umsonst.«
    »Die graben aber doch nicht nach Finnland«, entgegnete der Oberführer kopfschüttelnd.
    »Wohin denn sonst?«
    »Nach Moskau.«
    »Wie bitte?«,