Piter - Wrotschek, S: Piter - Metro-Universum: Piter
Wind heult um das kolossale Bauwerk und bringt es zum Schwanken. Iwan schaut nach unten. Er steht am Rand einer vornübergeneigten Aussichtsplattform. Einige Stockwerke tiefer wird das Gebäude von niedrigen grauen Wolken umsäumt. Der Fuß des Bauwerks ist nicht zu sehen.
Wäre wohl ein ziemlich langer Flug von hier bis nach unten.
Iwan wendet den Blick nach vorn. Ein Wasserlauf. Er folgt ihm. Das ist die Newa. Schweigsam und pechschwarz liegt sie in ihrem Bett. Die steinernen Ufer sind mir grauer Vegetation bewachsen. Die Begrenzungsmauer der Uferstraße ist an manchen Stellen von Bäumen durchbrochen. Wenn man so etwas überhaupt als Bäume bezeichnen kann. Fleischige graue Stämme, eingerolltes Laub.
Eine Brücke. Noch eine Brücke, zerstört.
In der Ferne schimmern Gebäude. Die vertraute Spitze derAdmiralität.
Ein Stück weiter entdeckt Iwan ein fast kreisrundes Ruinenfeld. Dort hat sich die Druckwelle ausgebreitet und die Gebäude dem Erdboden gleichgemacht. Professor Wodjanik würde wahrscheinlich sagen, dass hier eine atomare Luftexplosion stattgefunden hat. Eine Neutronenbombe. Die Zerstörungen sind nicht ganz so verheerend, dafür ist die Verstrahlung für die nächsten fünfzig Jahre garantiert.
Endlich realisiert Iwan, wo er sich überhaupt befindet.
Es ist die Gazprom-»Kerze«. Das Ochta-Center.
Ein Phallussymbol, das aus der Skyline der Stadt heraussticht. Der leblose Wolkenkratzer unter Iwans Füßen heult schauderhaft und schwankt mit einer Amplitude von mehreren Metern hin und her. Iwan erinnert sich, dass das Bauwerk seinerzeit nicht ganz fertig wurde. Es stand nur eine leere Hülle. Die Fenster waren schon drin, doch die Druckwelle hat sie wieder ausgebaut. Innerhalb des Gebäudes gibt es kein Leben. Zum Zeitpunkt des großen Knalls waren hier keine Menschen – höchstens ein paar Bauarbeiter vielleicht.
Iwan lässt den Blick schweifen und erblickt am anderen Newa-Ufer das blassblaue Gebäude der Smolny-Kathedrale. Ihre eleganten Türmchen sind verblasst und teilweise eingestürzt. Aus der Höhe des Ochta-Centers sieht alles winzig aus, wie Spielzeug.
Wamm!
Da ist irgendwas, im Gebäude. Irgendetwas Lebendiges. Iwan dreht sich um und sieht ein Auge.
Durch ein Loch in der Aussichtsplattform und zwischen rostigen Trägern hindurch schaut ihn ein schwarzes, rundes Auge an.
Iwan läuft es kalt den Rücken herunter.
Kein Vogelauge.
Und dennoch. Der kehlige Ruf eines Raubvogels. Aus dem Aufzugschacht ragt ein zahnbewehrter, zuckender Rachen. Der lange schlanke Hals ist mit grauem Flaum bedeckt. Die Zähne sind klein und spitz.
Iwan weicht panisch zurück. Die Bestie klappert mit dem Schnabel und stößt krächzende Schreie aus. Iwan wird von einem Windstoß erfasst und verliert das Gleichgewicht. Er stürzt übers Geländer und hält sich im letzten Augenblick an der Querstange fest. Mit einer Hand. Der Wolkenkratzer schwankt langsam hin und her. Iwan spürt das feuchte Metall unter den Fingern. Schmieriger Rost.
Mit aller Kraft krallt er sich fest, doch seine Finger rutschen ab.
Einer nach dem anderen.
Iwan spürt keine Angst. Stattdessen erfasst ihn eine merkwürdige Apathie, so als würde ihn das alles nichts mehr angehen.
Er hängt nur noch an zwei Fingern. Sie sind weiß vor Anstrengung.
Im nächsten Moment zückt Iwan mit der freien Hand ein langes Messer, holt aus – die Klinge blitzt – und schlägt zu. Die Schneide durchtrennt die Finger unterhalb des zweiten Gliedes.
Schweigend beobachtet Iwan, wie es spritzt – doch nein, da kommt kein Blut. Nicht ein einziger Tropfen.
Die Finger entfernen sich langsam von der Hand. Der Spalt zwischen Fingern und Hand wird größer und größer, verwandelt sich aus einem schmalen Kanal in das breite Bett der Newa.
Iwan lässt das Messer los. Es fällt trudelnd hinab und verschwindet im Nebel.
Iwan sieht die sauberen rosa Schnittflächen mit zwei weißen Punkten in der Mitte – den Knochen.
Und beginnt zu fallen.
Der Wind pfeift um die Ohren und im Magen breitet sich ein flaues Ziehen aus. Die Stockwerke fliegen vorüber. Sie entfernen sich immer weiter, denn der Turm steht schief.
Dann taucht Iwan in den grauen feuchten Nebel ein.
Er ist auf einen Schlag blind.
Im Magen gähnt die Leere des Alls.
Der Aufprall.
»Hörst du mich, Wanja?!« Solochas Stimme. »Dort hinten am Bahnsteig gibt es Ärger.«
Iwan öffnete die Augen und schob die Strickmütze in die Stirn zurück. Normalerweise trug er sie als Kälteschutz unter
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