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Pixity - Stadt der Unsichtbaren

Pixity - Stadt der Unsichtbaren

Titel: Pixity - Stadt der Unsichtbaren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dieter Paul Rudolph
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noch heiß beschert, drücken Sie mir mal ganz fest die Daumen.«
    Bentner versprach es. Er trank seinen Kaffee zügig, legte einen Fünfeuroschein neben die leere Tasse, sagte »schöne Weihnachten« und erhielt eine Antwort, die wie »sowieso« klang, und einen letzten Blick, der etwas anderes sagte.
    Er packte seine Einkäufe aus. Gefrorenen Fisch. Es gäbe Backfisch mit Kartoffelsalat, eine ungeheure kulinarische Herausforderung, ein logistischer Kraftakt, man würde Kartoffeln kochen müssen und pellen und klein schneiden, Speck würfeln und anbraten und höllisch aufpassen, dass er einem nicht anbrannte, dann konnte man ihn wegwerfen. Eier hartkochen, die heiße Schale mit spitzen Fingern lösen, ganz zu schweigen von den Gewürzgurken und Tomaten, der Vinaigrette, ja, und dann den Fisch braten, angeblich enthielt er keine Gräten, wer’s glaubt. Das stellte sich Bentner vor und war glücklich. So hatten sie daheim immer Weihnachten gefeiert, nach der Bescherung, im Fernsehen gab es ein Konzert und im Kopf eines Kindes nichts sonst als eine Ritterburg mit Spielfiguren, ein Fort mit Cowboys und Indianern oder Legos oder einen Tierpark.
    Es würde genug für zwei da sein, aber Lisa käme nicht, das wusste er. Sie starrte die Wände an und war glücklich. Bentner erinnerte sich an Olivias Weihnachtskarte, auch daran, dass er sie vorgestern Abend aus dem Briefkasten geholt und noch in der Hand gehalten hatte, als er in seine Wohnung gekommen und überfallen worden war. Und die Karte? Bentner suchte sie und fand sie nicht. Er musste sie doch fallengelassen haben, an der Tür, im Flur. Nichts.
    Aber er hatte die Telefonnummer auswendig gelernt. Zehn Zahlen, höchstens, oder? Schon dass ihm das nicht mehr einfiel, war beunruhigend. Er konnte noch immer Schillers Glocke aufsagen (na ja, mit einigen Fehlern und Leerstellen), aber die Telefonnummer fiel ihm nicht mehr ein. Gut, es gab Telefonbücher. Olivia pflegte sich nie dort eintragen zu lassen, das war ihr Prinzip. Jetzt nichts erzwingen wollen, das ist völlig aussichtslos. Einfach etwas anderes tun, sich ablenken, das war wie beim Programmieren. Entspann dich und denk nicht an dein Problem, dann fliegt dir die Lösung irgendwann zu, ist einfach da oder nicht, geh spazieren (dazu hatte er keine Lust), telefonier zwanglos mit dem besten Freund (er hatte keinen), denk daran, was es heute Abend zu essen gibt (daran hatte er schon ausgiebig gedacht), oder fahre deinen Rechner hoch. Bentner fuhr den Rechner hoch.
    129 Freunde hatte Layla-Anne gehabt, 87 davon Mädchen. Keine davon hieß Anna, aber eine war Anna. Sie hatte rote Haare, gefärbt natürlich, und Probleme mit ihrer Mutter, keinen Vater – gut, das mochte so wenig stimmen wie der Name, trotzdem glaubte Bentner, dass es stimmte, nein, er wusste es. Er schaute sich die Bilder der Mädchen an, eins nach dem anderen.
    Bentner las sich durch die Einträge, suchte nach Zeichen der Trauer über Layla-Annes Tod. Nicht alle Informationen waren ihm zugänglich, viele nur für Freunde freigeschaltet. Also las er in den Gesichtern der zumeist fröhlichen Kinder, den amateurhaften, mit Handycams selbst aufgenommenen Porträts. Er las wie ein zweijähriges Kind sich die Buchstaben betrachtet, Kreise und Spazierstöckchen sieht, aber ahnt, dass all das für etwas anderes stand, für das, was aus den Mündern der Vorleser kam.
    Irgendwann hatte er sich verloren. Es war elf geworden, zwölf, halb eins. Er suchte Mädchen mit roten Haaren oder Augen, in denen Erschrecken zu lesen war, Mädchen mit roten Haaren fand er reichlich, Erschrecken in den Augen nicht, vielleicht, weil er auch das nicht lesen konnte. Er tippte den Namen »Svea Bürger« in Suchmaschinen, erntete keinen Treffer von irgendeiner Relevanz, er spielte mit dem Gedanken, sich selbst hier anzumelden, sich allen Freundinnen der Toten als »Freund« anzubiedern.
    Rick, 16, er würde das Internet nach geeigneten Fotos absuchen müssen, gewiss welche finden, einen netten, gut aussehenden Jungen eben, der niemals erfahren würde, wie er in einem anderen Leben, von dem er natürlich ebenfalls nichts wusste, hieß, was er sagen und tun würde, wie und wann durch einen Mausklick sterben.
    Einen Account besorgen. Vielleicht hatte auch goldenesBlut das getan oder Claus. Möglicherweise existierten diese Accounts noch. Die Bilder nochmals anschauen, die der Jungs, aber sie konnten sich auch als Mädchen angemeldet haben. Also alle Mädchen, die nicht in die Schule von

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