Plage der Finsternis - Keohane, D: Plage der Finsternis
mit einer anderen Frau gesehen haben ...«, fuhr er fort. »Es geht mich ja nichts an, aber es ist sechs Jahre her. Haben Sie inzwischen je von ihm gehört?«
Sie schüttelte den Kopf, dann schien sie es sich anders zu überlegen und sagte: »Nur ein paar Briefe. Nichts Wesentliches.« Sie lachte, kurz und freudlos. Aus unerfindlichem Grund hörte sich die Äußerung für Gem wie eine Lüge an, aber es ging sie wohl nichts an. Soweit es sie betraf, sollte Joyce froh sein, dass sie den Kerl losgeworden war.
Bill sagte etwas leiser: »Das tut mir leid. Trotzdem hört sich das, was Sie gesehen haben, wie eine natürliche Befürchtung an. Auch nach all der Zeit. Er ist irgendwo da draußen, wahrscheinlich weit von hier entfernt, aber er führt irgendwo ein Leben.«
»Nicht besonders weit«, murmelte Gem und zuckte zusammen, als ihr klar wurde, dass man sie gehört hatte.
»Was meinst du damit?«, fragte Bill.
»Nichts. Gar nichts. Es ist nur so, dass ...« Sie spähte zu Mrs. Watts. Kein finsterer Blick, aber das würde sich bestimmt ändern. Gem seufzte. »Es ist nur so, dass ich ihm das letzte Mal, als ich hier war, über den Weg gelaufen bin. Er hatte gehört, dass der Ort verkauft wurde, und wollte ihn noch mal besuchen oder so, das ist alles.«
Joyce erblasste. Gem hatte vermutet, sie würde wütend darüber sein zu erfahren, dass der Kerl in der Gegend herumschlich; stattdessen wirkte sie ... verängstigt.
»Das ist unmöglich«, murmelte Joyce.
Mann, dachte Gem. Sie hat ja wirklich Angst. Was hat der Mann ihr nur angetan? Einerseits wollte sie sich danach erkundigen, andererseits auch nicht. Nach dem, was beinah geschehen wäre, vermeinte sie, eine ziemlich gute Vorstellung davon zu haben.
So frostig, wie Gem es erwartet hatte, fragte Mrs. Watts: »Du meinst, er war bei der Säkularisationszeremonie hier?«
»Nein«, erwiderte Gem und hörte sich barscher an, als sie beabsichtigt hatte. »Einige Wochen davor. Sie müssen ihm auch über den Weg gelaufen sein. Sie sind fast zur selben Zeit mit irgendeinem Mann aufgetaucht.«
Bill Watts zog eine Augenbraue hoch, sah dabei jedoch eher belustigt als eifersüchtig aus. Auch Mrs. Watts schien keineswegs verlegen. Stattdessen klatschte sie Bill auf den Arm und meinte: »Ich hab’s dir doch gesagt.«
»War der Mann etwa so groß wie Seyha und hatte eine beginnende Glatze?«, erkundigte sich Bill.
Gem nickte. Mrs. Watts sagte: »Ja, Gem, ich weiß, dass du hier warst – ich habe dich mit deiner kleinen Kerze über den Hof laufen gesehen.«
Gems Besorgnis schlug in Zorn um. Diese Frau war eine solche Idiotin. »Dann haben Sie auch Mr. Lindu gesehen. Er war unten im Keller und hat mich ... äh ... weggejagt.«
Joyce wandte sich langsam Mrs. Watts zu. »Seyha? Haben Sie ihn gesehen?«
Mrs. Watts schüttelte den Kopf. »Nein, hab ich nicht. Es gab keine Anzeichen darauf, dass jemand anders als dieses Mädchen hier war. Wenn Ihr Mann im Haus gewesen wäre, hätte ich ihn gesehen oder zumindest gehört.«
Gem verschränkte die Arme vor der Brust und rollte sich auf ihrem Sitz enger ein. »Er war hier; dann haben Sie ihn eben verpasst. Er wollte ja auch nicht gesehen werden, hatte ich den Eindruck.«
Joyce schaute zu Boden. Sie war eine der größten Frauen, denen Gem je begegnet war, doch in diesem Augenblick, als sie in die Kissen gesunken vor ihr saß, wirkte sie sehr klein. Ihre Augen zuckten hin und her, als sie flüsterte: »Er war hier?«
Gem konnte sie kaum hören. Sie musste irgendwas sagen. »Falls das ein Trost ist, er hat sich wie ein Trottel benommen.«
Joyce lächelte matt, und Bill lachte, dann jedoch trat unbehagliche Stille ein.
Nach einer Weile wechselte Bill das Thema. »In meiner Vision waren Sey und ich in einem Restaurant. Jedenfalls teilweise. Im Cabel Grille in Hillcrest. Dort habe ich ihr meinen Antrag gemacht.« Er sah seine Frau an. »Erinnerst du dich daran?«
Seyha nickte, wobei der Ansatz eines Lächelns über ihre Züge kroch, das jedoch rasch wieder von einer harten Miene verdrängt wurde.
»Ich saß dort und konnte durch meine Augen sehen. Aber ich konnte nicht reden. Ich konnte meine Worte hören, jene von damals – ich bin ziemlich sicher, dass es die richtigen waren –, nur wurden sie von dieser anderen Stimme gesprochen. Von der, die wir um den Tisch gehört haben, bevor ... bevor alles dunkel wurde.«
Joyce nickte. Als sie das Wort ergriff, erklang ihre Stimme lauter, und etwas Farbe kehrte in ihre Wangen zurück.
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