Plage der Finsternis - Keohane, D: Plage der Finsternis
beiden Händen die Rückenlehne des Stuhls umfasste und ihn vor sich anhob. »Was, wenn es Ihnen gelingt, das Glas zu zerbrechen, und wir alle ins All gesaugt werden?«
Er bedachte sie mit einem flüchtigen Nicken und zwinkerte. »Gem, ich finde, du siehst viel zu viel fern.« Damit trat er seitlich neben das Fenster. »Also gut«, sagte er. »Los geht’s!«
Gem hielt sich die Ohren zu und rollte sich auf den Kissen ein. Auch Seyha drückte sich tief in den Sitz zurück. Mit einem leisen Grunzen hob Bill den Stuhl auf Schulterhöhe an, nutzte die Drehung seines Körpers, um Schwung zu holen, und schlug mit dem Stuhl heftig gegen das Fenster. Gem kreischte. Im Augenblick des Aufpralls war Seyha sicher, das Glas würde bersten, der Stuhl würde nach draußen fallen und herrliches Tageslicht hereinströmen.
Stattdessen zerbrach der Stuhl in einige scharfkantige Teile. Drei der Beine hingen noch durch die sie verbindenden Dübel zusammen, fielen jedoch von der Sitzfläche ab. Ein Bein verblieb daran und sprang, dann löste sich die Sitzfläche selbst und landete auf dem Boden. Die Rückenlehne verharrte in Bills krampfhaftem Griff.
Abgesehen von den übereinander zu Boden fallenden Trümmern verursachte der Aufprall kein Geräusch. Da ist nichts , durchzuckte es Seyha erneut. Die Schwingungen des Schlags mussten geschmerzt haben. Bill blickte die anderen mit einem gequälten Ausdruck an, ohne die Stuhllehne loszulassen.
»Ich ...«, begann er. »Nein. O nein, bitte, Gott.«
Seyha starrte ihn an – und sah plötzlich nur noch die Wand. Die Stuhllehne landete auf den anderen Teilen. Seyha blinzelte, ihr Blick schweifte durch den Raum. Bill war nicht hier. Unstet sprang sie von der Couch auf und rannte zu seinem Körper auf dem Boden.
Doch da war kein Körper.
Bill war verschwunden.
»Bill ...«
Gem schrie und hielt sich die Hände vors Gesicht.
Joyce erhob sich von dem Stuhl, verharrte jedoch nach zwei zu langsamen Schritten.
Gem war verschwunden.
Vater unser im Himmel, geheiligt werde dein Name ... , betete Seyha bei sich das Vaterunser, während sie in ihrem Wohnzimmer stand, das heimzusuchen Dämonen sich nicht scheuten; aus dem sich ihr Ehemann und ihre Nachbarin soeben in Luft aufgelöst hatten. Wie im Himmel so auf Erden ...
Seyha schaute zu Joyce und erkannte, dass die Geistliche das Gebet laut murmelte und auf den Sessel starrte, auf dem Gem gesessen hatte. Seyha streckte sich nach ihr, wollte nicht alleine zurückbleiben. Sie wollte nie wieder allein sein.
Joyce Lindu war nicht mehr da.
Plötzlich spürte Seyha nichts mehr. Keine Panik, kein Grauen. Es gab nichts zu fühlen, nichts zu spüren und nichts zu bekämpfen, nicht einmal, als sie ein Kribbeln am Schädel wahrnahm und eine Aura von Nichtigkeit ihren Kopf umhüllte wie ein schwammiger, schwarzer Schleier. Was konnte sie schon tun? Sie war tot. Sie alle waren tot und befanden sich in der Hölle. Die Finsternis würde in alle Ewigkeit immer wieder zurückkehren.
ZWEITER TAG DER FINSTERNIS
Es war seltsam, wie vertraut dieses Empfinden der Entrückung bereits geworden war, das Empfinden, auf einem Sessel zu sitzen, der sich nicht mehr wie jener anfühlte, auf dem sie sich befunden hatte. Wurde es bereits nach dem ersten Albtraum zu Routine? Nein, weit gefehlt. Gem stand abermals Todesangst aus, doch diesmal vor etwas, das weniger unbekannt war als beim letzten Mal. Sie würde erwachen; die Finsternis würde sich lichten, und sie würde irgendwo sein. Vielleicht auch nur, um ein Monster vor sich zu erblicken, das darauf wartete, ihr erneut die Klauen in den Bauch zu stoßen.
Um sich vor dem zu schützen, was jenseits des schwarzen Schleiers stehen würde, hob sie die Hände vors Gesicht. Anscheinend stellte diese grässliche Erwartung einen Teil des Spiels dar. Wie lange es sich hinziehen würde, wagte sie sich nicht zu fragen.
War es das? Ein Spiel? Joyce hatte in all dem etwas Biblisches gesehen, aber so dachte sie nun mal. Immerhin war sie eine Geistliche. So wie sie redete, konnte es Gott sein, der mit ihren Köpfen spielte. Gem hingegen glaubte nicht, dass dies sein Stil war. Zumindest nicht seit jener Zeit in Ägypten. So sehr es ihr widerstrebte, es zuzugeben, Mrs. Watts’ Vorstellung schien es eher zu treffen. Was immer ihnen dies antat – es war böse. Jemand oder etwas genoss es, sie zu quälen.
Nicht zum ersten Mal fragte sich Gem, ob sie alle tot waren, dazu verdammt, ihre schlimmsten Ängste immer wieder aufs Neue zu
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