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Plan D

Plan D

Titel: Plan D Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simon Urban
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allein in diesem Land der uferlosen Solidarität, nicht wahr? Allein mit sich und dem Tumor, den manche das Gewissen nennen. Was du jetzt auch tust, es bleibt etwas zurück. Metastasen dieses miesen Gewissenstumors, die dein Körper absorbiert und nicht mehr ausscheiden kann, die er mit sich herumschleppen muss, bis sie irgendwann ihrerseits Krebs auslösen, stichelnden Gedankenkrebs, der dich von innen auffrisst. Du bist nicht länger Zuschauer, du kannst die Handelnden nicht mehr aus deiner gepolsterten Loge beschimpfen, Martin, du musst jetzt selbst Entscheidungen treffen und du weißt, dass du für jede Entscheidung, die du triffst, beschuldigt wirst. Von anderen, aber vor allem von dir selbst. Trittst du die Maus tot, hast du sie umgebracht. Lässt du sie langsam verrecken, ist es noch schlimmer. Egal wie, der Schmerz der Maus wird zu deinem privatesten Leid. Von dem Moment an, in dem du die Tür aufmachst.« Borgs öffnete die Augen. »Willst du die Tür aufmachen?«
    Wegener versuchte, dem Bulldoggenblick von Borgs zu begegnen, aber dieser Blick war zu fordernd, zu amüsiert, zu wissend. Wegener starrte auf den Boden. Verschrammtes, rot-braunes Stabparkett. Unter den rostigen Heizkörpern wölbte sich das Holz, war aufgequollen, rissig, brach Stück für Stück auseinander. Das war es, was Früchtl meinte, dachte er, wenn er sagte, dass ich überhaupt nichts verstanden habe.
    »Und wenn ich die Tür nicht aufmache?«
    Borgs faltete seine dicken Hände zum Gebet. »Dann leidest du ab sofort unter Sehstörungen, Sprachstörungen, Taubheitsgefühlen, Schwindel und Kopfschmerzen, in einer Stunde bist du in der Notaufnahme der Charité, Verdacht auf Schlaganfall, man behält dich vier bis fünf Tage zur Beobachtung, und ich nehme dich morgen früh um Punkt sieben unumkehrbar aus der Sonderermittlung raus. Und zukünftig in keine Sonderermittlung mehr rein.«
    Farbige Lichtpunkte wanderten über das reglose Borgs-Gesicht. Wegener sah zur Decke. Riesige Lüster mit Glasperlenketten, dazwischen Discokugeln, silbern glitzernde Fernsehturmminiaturen, die angefangen hatten, sich zu drehen, und blaue, grüne, gelbe Flecken durch den Raum streuten. Die Mausgesichtbedienung umkreiste den Tisch, schwebte auf ihren dürren Strumpfhosenbeinen durch den bunt gesprenkelten Sesselparcours, balancierte ein Tablett mit leeren Biergläsern, Wegeners Blick klebte an ihr, schwebte mit, sah den spindeligen, hageren Körper plötzlich nackt, die spitzen Rippenbögen unter der weißen Haut, die wandernden Farbpunkte auf den platten Brüsten, die fleischigen, blutroten Zitzen, die dichte Schamwolle zwischen den Beinchen, die fast bis zum Bauchnabel hochwucherte. Jetzt glotzte ihn die Maus mit ihren dunklen Augen an, unvermittelt und direkt, fror in der Drehung ein, durchleuchtete ihn für zwei, drei, vier Sekunden, fotografierte sein Rückenmark und sein Gehirn, seinen Kiefer, sein Herz, seine fettige Leber, hatte alles schwarz auf weiß, wischte mit einer blassen Zunge über schmale Lippen.
    Borgs drehte den Kopf, das Mausgesicht duckte sich weg, rannte fast gegen einen Tisch, zwei Gläser rutschten ihr vom Tablett und zersplitterten auf dem rot-braunen Holzboden zu feinen Scherben, die im Discokugellicht bunt blitzten.
    Wegener stand auf.
    Die Dürre hatte ihr Tablett auf einen Sessel geworfen und rannte jetzt mit krachenden Absätzen durch den Saal, vorbei am Weihnachtsbaum, an den aufgeklebten Einschusslöchern, Gäste und Studenten starrten, dann war sie an der Treppe zum Foyer, flog um die Ecke, rutschte fast aus, ruderte, fing sich, war weg.
    Borgs paffte. »Hast du Kabel gesehen?«
    »Nein. Vielleicht ein Richtmikrofon mit Sender.«
    »Oder nur eine depressive Neunzehnjährige, die um ihren Ex trauert und die Nerven verliert, wenn man ihr auf die nicht vorhandenen Titten glotzt.«
    »Das glaubst du doch selbst nicht.« Wegener setzte sich wieder.
    Borgs zog an seinem Zigarillo und legte den Kopf in den Nacken. »Glauben, Marti n … Du kannst glauben, was du willst. Vieles davon mag sogar richtig sein. Aber in unserem Beruf geht es leider nicht ums Glauben.«
    »Also habe ich die Wahl zwischen Schlaganfall und Kopfschuss.«
    Borgs lächelte. »Ein DDR-Mensch hat immer nur die Wahl zwischen Schlaganfall und Kopfschuss. Alles andere steht auf Wunschzetteln, die dir niemand erfüllt. Der Weihnachtsmann ist tot, Frau Wagenknecht schleift ihn, soweit ich weiß, in der hundertzwanzigsten Minute an den Füßen hinter seinem eigenen

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