Plan D
Schlitten her.«
»Ich merke keinerlei Anzeichen für Sehstörungen«, sagte Wegener, »im Gegenteil. In den letzten Tagen hatte ich das Gefühl, ich sehe immer klarer.«
Borgs drückte das Zigarillo im Grünkohl aus. Es zischte kurz. »Dann stehst du morgen um halb neun vor deinem Haus.«
»Wohin geht die Reise?«
»Ich weiß es nicht. Und du wirst es auch nie erfahren.«
»Kayser und Brendel?«
»Brendel ist dabei, sofern er sich traut, die nötigen Papiere zu unterschreiben.«
Borgs stand auf und zog seinen Mantel an. Er zauberte ein großes, braunes Taschentuch hervor und schnäuzte sich.
»Damit du wirklich kapierst, wovon ich hier rede, Martin. Deine Ex-Freundin, Karolina Enders. Man hat Kallweit gegenüber durchblicken lassen, dass sie Hoffmann kannte.« Borgs faltete das Taschentuch umständlich zusammen und steckte es wieder ein. »Ab jetzt ist alles möglich.«
Wegener hatte das Gefühl, er stünde auf dem Fenstersims von Kaysers EastSide-Suite, unter seinen Schuhspitzen der Betonschlund des Alex, sein Magen Henry Maskes Comeback-Sandsack, und Henry war gut in Form heute, der drosch mit rechts und links drauf, zack, wumm, bäng, Wegener sah sich selbst da oben stehen, 27 . Stock, die Toten wohnen oben, sah, wie er sich krümmte, kippte, ab jetzt ist alles möglich, seine Finger quietschten am erleuchteten EastSide-Glas nach unten, Meter um Meter, immer schneller, hinterließen zehn schmierige Streifen im klebrigen Fassadenfettfilm, freier Fall, Karolinas hellblaue Zehennägel im Wannseegras, das enge Bikinihöschen, durch das sich ihr Geschlecht abzeichnete, der Höschenstoff von dem Kamelhuf immer halb aufgefressen, überall in diesem Land kann sich plötzlich ein Spalt auftun, und schon fällt man rein, sagt die tennisballgroße Vossgeschlechtsbeule, sitzt fest im gemeinsten Lügenloch, alles drehte sich, elender Schwindel, in den hinein Borgs ein bedauerndes Gesicht machte, das erste Mal in all den Jahren, dass Borgs ein ernst zu nehmendes, bedauerndes Gesicht gelungen war, dann klopfte er Wegener auf die Schulter und drehte samt seinem bedauernden Gesicht ab, stapfte durch den Saal wie ein mopsiger Einzelkämpfer, lief im Hintergrund einem Tross von Kinoleuten in die Arme, mittendrin Sahra Wagenknecht in ihrem bikiniartigen, roten Kampfanzug, Borgs, der natürlich Zettel und Stift hervorzaubern konnte, bekam ein Autogramm, Zeitlupenposen, ein Foto mit dem Minsk, Wagenknecht und der Zivilnikolaus Borgs in der Disco, Borgs zwei Köpfe kleiner, drei Kinne mehr, alle lachten, Wegener hielt sich an den Lehnen seines Sesselchens fest und hatte das Gefühl, schon wieder kotzen zu müssen, eine Fortsetzung des Brechreizes bahnte sich an, alles wollte raus, um Platz zu machen für einen gerade erst eingeschlafenen und plötzlich schon wieder erwachten martialischen Schmerz, noch gewaltiger diesmal, noch rasender und noch weniger bereit, sich durch irgendetwas besänftigen zu lassen.
Frauen, sagte Früchtl, sind verschmutzte Milchglasscheiben in einer zugemauerten Dunkelkammer, Marti n – du blickst nicht durch.
Das Minsk piepte. Ronny, dachte Wegener. Eine TNT lief durchs Display:
Übermorgen, 1 2 Uhr, Boltenhagen, Seebrücke. Keine Mikrofone, keine Stasi. Bringen Sie ein Paar Handschellen mit. Das ist ein einmaliges Angebot. Marie Schütz
Wegener drückte automatisch auf Wählen, für die Fangschaltung würden sie um diese Zeit jemanden aus dem Bett klingeln müssen, bis dahin hatte die ihre Quetsche längst wieder aus, des Anschlusses 0-1-8-2-3-5-6-6-6-2-4 ist zur Zeit nicht erreichbar, Sie können aber nach dem Signal eine Nachricht aufsprechen. Haben Sie schon unser neues Minsk M6 mit nationaler Netzfunktion, 5, 0 Megapixel-Kamera und automatischer Spracherkennung? Nein? Dann nichts wie hin zu Ihrer VEB-Telemedien-Filiale! Denn beim Kauf eines neuen Minsk M6 und gleichzeitigem Abschluss eines Dreijahresvertrages werden Ihnen jetzt sensationelle 15 0 Vertrauenspunkte gutgeschrieben! Sichern Sie sich Ihre persönlichen Vertrauenspunkte, solange das Angebot gilt! VEB-Telemedie n – Jetzt haben Sie Redefreiheit!
Dienstag, 25. Oktober 2011
22
Ü ber Nacht hatte der Winter Berlin gepackt, ein amoklaufender Straßenkehrer, der den kranken Bäumen das letzte Laub herunterriss, vor klapprige Altbaufenster trat, Abfall über die bröckelnden Gehwege trieb, alten Frauen unter die Plastikröcke glotzte und versuchte, Wegener den stumpfen Schmerz aus dem Kopf zu wehen, den das Glühweingesöff, die
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