Plan D
Flasche Goldkrone und eine schlaflose Nacht hinterlassen hatten. HO-Tüten, zerknüllte Volkswacht -Doppelseiten, trockene Blätter, Taschentücher, leere Club-Cola-Dosen, Kaugummipapiere, alles flog an ihm vorbei, verwirbelte auf der durchlöcherten Asphaltdecke zu einem willenlosen Müllmonster, das sich unschlüssig um sich selbst drehte, überfahren wurde, sich wieder aufrichtete, weggeblasen wurde, immer weiter die Straße runter Richtung Westen, bis zur Mauer, an der aller DDR-Dreck hängen blieb und zu einem raschelnden Berg anwuchs, dem man mit Sicherheit die Ausreise verweigerte.
Wegener klappte den Mantelkragen hoch und machte einen Schritt rückwärts in den Hauseingang. Er dachte an das Grab seiner Eltern, an das dunkelgrüne Efeu, das in dieser Minute vierzehn Kilometer weiter nördlich vom Wind zerzaust wurde, an den sturen Grabstein, der exakt jetzt, während er an ihn dachte, vor einem farblosen Himmel stand, kalt und unveränderbar, mit eingemeißelten Namen von Menschen, die ihre Tage und Stunden, ihr Gegenwartskontingent verbraucht hatten und jetzt für alle Zeit vergangen sein mussten, die niemand außer ihm beschreiben konnte, die nur noch in den wenigen Sekunden weiterlebten, in denen er sich an sie erinnerte, und für einen Moment wäre Wegener am liebsten wieder nach oben gegangen, in die stumme Wohnung, in der der Müll nicht tanzte, sondern tot in den Ecken lag, und hätte den ganzen Tag nichts anderes getan, als sich zu erinnern, egal, wie müde er war, hätte sämtliche Fotos rausgesucht, hätte jedes Weihnachten, jeden Streit, jede Hannibalfahrt nach Boltenhagen wachgerufen, nur um seine Eltern wiederzubeleben, um ihnen vierundzwanzig Stunden am Stück zu gönnen, die letzte Chance auf Existenz, indem sie als minimale Stromimpulse durch das Hirn des Sohnes schossen, eine Mischung aus Chemie, Physik und Illusion, und vielleicht hätte er, ganz heimlich und leise und ohne damit irgendetwas Bestimmtes sagen zu wollen, auch Früchtl in seine Erinnerungsorgie eingeschlossen. Wegener fragte sich, ob er mit seinem wuchernden Alleinseingefühl, mit der plötzlich immer lauter bohrenden Einsamkeit zu seinen Eltern gegangen wäre, wenn die nicht auf vier Quadratmetern in Weißensee wohnen würden, sondern nach wie vor als perfekt eingespieltes Doppel in ihrer krebserregenden Altbaugruft, ob er sich, fünfundfünfzigjährig, bei Mami und Papi ausgeweint hätte über dieses Kulissenleben, das Potemkinsche Dorf Ostberlin, das einem nichts ersparte und dem man offenbar nichts ersparen durfte, wenn man durchkommen wollte, oder ob auch seine Eltern ihn noch enttäuscht hätten, ob auch denen noch Lügen, Spitzeltätigkeiten, Morde nachgewiesen worden wären.
Gibst du Karolina den Brief?, fragte die Früchtlstimme.
Ich weiß es nicht.
Lass uns darüber reden.
Nur das nicht.
Wegener lehnte sich an die vergitterte Haustür. Auch Borgs gehörte zu den Mitwissern, zu den Spielmachern, war nur ein anderer Hoffmann, eine weitere Spezies Stratege, vorsichtiger, unideologischer, ein Mann, der sogar seine Zugehörigkeit verschleierte, von dem man nicht wusste, wem er treu war und für wen er hurte. Aber in einem Punkt hatte Borgs Recht, ab sofort gab es kein Zurück mehr, jetzt hieß es laufen, Flucht nach vorn, so schnell wie möglich westwärts, das Licht am Tunnelende finden und dann nichts wie raus hier, wenn man genug wusste, konnte man vielleicht die Ausreise erzwingen, sich abschieben lassen, ein unbequemes Stück Scheiße, dass durch irgendein gemauertes Arschloch in den Westen geschissen wird. So wie Ronny Gruber.
Meld dich bei der Verdrängungsolympiade an, sagte Früchtl, dann gewinnst du ein paar hübsche Medaillen.
Wenn du nicht aufhörst, verdräng ich dich.
Spaßvogel, rief Früchtl, ich hab ein lebenslanges Wohnrecht in deinem Kopf, bin Teil des Inventars, unkündbar, nicht rauszukriegen, deine eigene Stimme, Träger der unbequemen Wahrheit, ob ich als staubige Wolke daherkomme oder als verschollener Volkspolizist, ist wurschtegal, ich bin dein kümmerliches Restempfinden für das Richtige, für das, was dir guttut, und das weißt du ganz genau, wenn du mich loswerden willst, musst du dich erst mal selbst abschalten, ich bleib hier hocken in deinem Oberstübchen, der Letzte macht das Licht aus, die Karo wirft den Martin raus, einer tritt immer auf die Maus, will ich sehen, wie du mich, dich, sich selbst verdrängst!
Du hast schon wieder gesoffen.
Aus Kummer darüber, dass du an die
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