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Plan D

Plan D

Titel: Plan D Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simon Urban
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Sprache hier gar nicht erst rein, und wenn sie doch irgendwie eindrang, starb sie innerhalb kürzester Zeit ab, wurde verloren, ausgetrieben, abgewürgt, Wegener schwebte ein gigantisches Warnschild vor, auf das alle deutschen Worte gedruckt waren und darunter der Hinweis: Wir müssen leider draußen bleiben .
    Die Holztür öffnete mit einem leisen Summen, noch ein Maskierter, der das Gitter von innen aufschloss, einen Teil herausschwenkte, Wegener, Brendel und seinen Maskenkollegen in das Gebäude hineinnickte, hinter ihnen zusperrte, losmarschierte: Ein kilometerlanger halberleuchteter Gang, auf dem Boden antiker PVC-Belag mit Siebziger-Jahre-Blumenmuster, abblätternde Holzfurnierfolie an den Wänden, dahinter rohes Mauerwerk, rechts ein blendend heller, sichtschutzverglaster Treppenaufgang, eine weitere Gitterreihe, die sich um die Ecke zog und ihnen den Weg versperrte. Der zweite Maskierte öffnete, der erste blieb hinter ihnen, finstere Rückendeckung, gut gefettete Scharniere, kein Quietschen, das wandernde, verzerrte Schattengitter auf dem blassen Boden wurde schmal, ließ alle vier passieren, wurde wieder breiter und fiel scheppernd ins Schloss. Jetzt protzten rechts und links schwere, hellgrau lackierte Zellentüren, von bulligen Matrosen aus Schiffsplanken zusammengenagelt, klotzige Metallriegel oben und unten, die tropfenförmigen Verschlüsse der Gucklöcher lauter eiserne Tränen, schmale Essensluken mit Griff, wir sind im Zoo, dachte Wegener, im Raubtiergehege, bei den bissigen Bestien der DDR, wer auch immer diese Bestien sind, wen auch immer sie angefallen haben, wie auch immer sie herkamen, im Käfigwagen oder im Fisch-Barkas, nun liegen sie in Ketten, sitzen fest, hocken hinter bootsrumpfdicken Brettern in massiven Verliesen, bewacht von einer Horde taubstummer Bankräuber. Der Schwitzkasten des Systems.
    Er sah Brendel an. Brendels Blick flog umher, war ein westdeutsches Kamera-Auge auf Urlaub im Strafvollzugsmittelalter, irgendwo zwischen Neugier und Fassungslosigkeit, zwischen Ungläubigkeit und Bestätigung. Brendel schlich. Das selbstsichere Schreiten gelang ihm hier drin nicht mehr, seine kräftige Bonbonparfumfahne war längst vom süßlichen Statussymbol zu olfaktorischem Zynismus geworden, demonstrierte unaufhebbares Gefälle, war ein nicht zu fälschendes Geruchserkennungsmerkmal für Herkunft und Stand, ein duftender Persilschein, der den Rückzug ermöglichte, während hinter grauen Tresortüren lebende Leichen vegetierten, ein Tag wie der andere, die Monate verwechselbar, kein Ende in Sicht, kein Gramm Hoffnung, dafür eine bonbonmäßige Ahnung davon, dass Freiheit zum Gestank geriet, wenn sie unerreichbar wurde.
    Wegener spürte, wie der Goldkrone-Kopfschmerz irgendwo in seinem Gehirn pochend erwachte, sich an der Müdigkeit labte und ab jetzt wachsen würde, um für den Rest des Tages dabei zu bleiben.
    Brendel sah ihn an. Wegener blickte ein, zwei Sekunden in Brendels Blauaugen. Die Schwarzen hatten sie in der Zange, trieben sie immer tiefer in diesen lichtlosen Bau, durch unzählige Gittertüren, vorbei an noch mehr maskierten Wachen, die wie tot in den Türrahmen lehnten, hinter den Ecken lauerten, plötzlich auftauchten und wieder verschwanden, eine monotone Geisterbahn mit immer gleichen Schockeffekten, die sich labyrinthisch verzweigte, durch die man bis zum Jüngsten Tag wandern konnte. Wegener versuchte, die Route im Kopf mitzuschreiben und scheiterte, wie er schon im Barkas gescheitert war, an dem inszenierten Verwirrspiel, am dauernden Rechtsabbiegen und Linksabbiegen, Treppenhochsteigen und Treppenruntersteigen, an den sich wiederholenden, kargen Gängen, an dem Alarmkabel, das sich über alle Wände schlängelte, von roten und grünen Steckern zu einem elektronischen Spinnennetz verbunden, angeschlossen an die kugelrunden, kirschfarbenen Lampen, die wie leuchtende Furunkel aus der Decke hingen.
    Sie haben sich eine Höhle gebaut, dachte Wegener, ein Höhlensystem, das für ein ganzes Volk Platz bietet, in dem sich nur Eingeweihte zurechtfinden, in dem sie zu Hause sind, verschwiegen und anonym, keiner kennt den anderen, jeder hat eine Aufgabe und einen Vorgesetzten, schriftliche Befehle, Besprechungen nur im Notfall, stattdessen erprobte Routine, kalte Verwaltung der verfassungsfeindlichen Subjekte in gemauerten Kokons, jahrzehntelange Sterbebegleitung in diesem schäbigen Palast der Lautlosigkeit.
    Vielleicht war das ganze Höhlensystem aber auch nur Vexierspiel, in

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