Plan D
Wirklichkeit viel kleiner, viel weniger angsteinflößend, vielleicht war man jetzt schon sieben mal denselben Gang hinuntergelaufen, an denselben Zellentüren vorbei, folgte nur einem genau festgelegten Überwältigungsparcours, der den Besuchern Respekt vor der Allmacht der Staatssicherheit verabreichen sollte, nicht mehr als drei Maskenmänner-Komparsen, die immer wieder als ihre eigene Vervielfältigung auftraten, der uralte Trick osteuropäischer Selbstdarstellung, Hütchenspiele, Täuschungsmanöver, Stellwände, eine Maus, die sich als Elefant verkleidet, und den kommunistischen Karneval in seiner kunstvollsten Ausprägung feiert. Wegener versuchte, sich Einzelheiten zu merken, aber die Zellentüren hatten keine Nummern, keine Namensschilder, die Stockwerke keine Buchstaben, durch das geriffelte Glas der Treppenhausverkleidung sah man nichts als verschwommene Helligkeit, überall der gleiche Bodenbelag, überall das gleiche, abblätternde Gelbgrau an den Wänden, die gleichen Neonröhren, Drahtstecker, Essensluken, Türgriffe, Gitterstäbe, Sturmmasken, die gleiche Schwarzkluft der Wärter, keine Unterschiede, keine Details, nichts, an dem man sich festhalten konnte. Wegener merkte, wie trocken sein Mund geworden war, wie der Kopfschmerz zunahm und den Nachdurst mit sich brachte, die beiden hinterfotzigen Zwillinge, die jedes Besäufnis in einer wilden Nacht mit Männern über vierzig zeugte, und durch diesen Schmerz hindurch dämmerte ihm plötzlich, in was er hier tatsächlich hineingeraten war, in welchem politischen Sumpf er schon hüfttief steckte, mit jeder Bewegung weiter einsackend, ohne Aussicht auf Hilfe. Als hätte er in den letzten Tagen vor lauter Stress und Misserfolg durchgeträumt und wäre erst in der musealen Einöde dieses Endlosgefängnisses wieder zu sich gekommen, schlagartig erwacht, jetzt rauschte die Erkenntnis auf ihn nieder, wie viel Macht dieses Land tatsächlich besaß, was Borgs gestern gemeint hatte, Bautzen ist das EastSide unter den DDR-Gefängnissen, weil in Bautzen die Verurteilten saßen, vielleicht auch die zu Unrecht Verurteilten, aber immerhin Verurteilte, von denen man wusste, wo sie sich aufhielten, die man besuchen oder nicht besuchen konnte, die im Vollzug blieben und damit vorhanden waren, in Akten und Zellen, aber hier, auf dem Stasiplaneten, in der Plattenbauburg im Nirgendwo, abseits von allem, was lebte, hier war man nicht mehr existent, hier verschwand man für immer, vom gefährlichsten aller Staatsorgane verdaut, ein namenloser, nummernloser, pulsierender Komposthaufen in einem Abfalleimer aus Stein, von Familie, Freunden, Geliebten für tot erklärt, vergessen, getilgt, das konnte jedem passieren, jedem Einzelnen, ob Bombenleger oder Hauptmann oder Major, Früchtl, dachte Wegener, vielleicht hockt Früchtl hinter einer dieser baumdicken Türen auf dem Fliesenboden, abgemagert, hohlwangig, gefoltert, nackt, mit gestorbenen Augen im blassen Totenschädel, nur zwei, drei Meter entfernt und trotzdem unerreichbar, vielleicht stand auch die Erfassungsnummer MW-B-1101-IV/2010 (Vpb) längst auf irgendeiner Liste, vielleicht war einer der Betonsärge für Hauptmann Martin Alfons Wegener vorgesehen, natürlich hatte der Blonde trotzdem seine Schlenker und Umwege fahren müssen, damit die Ladung nicht nervös wurde, sich gebauchpinselt fühlte, eine exklusive Visite im geheimsten Geheimgefängnis des Geheimdienstes, Sonderermittlungsstatus, Staatsgeheimnisträger, heutzutage fuhr man niemanden mehr vor den Baum, nicht mal erschossen wurde man von diesen Hurensöhnen, warum auch, wenn man die Gefährder genauso gut kompostieren konnte, entmaterialisieren, auflösen, ganz ohne Salzsäure, keine Öffentlichkeit, keine Fragen, nur eine nie geklärte Vermisstenmeldung, Früchtl, dachte Wegener, Major Misstrauisch, hat dich deine letzte Recherche hierher geführt, mit Ausnahmegenehmigung zur Befragung eines Insassen, bist du ihnen am Ende doch auf den Leim gegangen, in die Borgs’sche Mausefalle getappt, an den Haken für Badenhoops Fische geraten. Plötzlich sah Wegener glasklar, die Wahrheit war ein Gegenstand, der ausgestellt und gut beleuchtet auf einem Tisch lag, den man ganz einfach betrachten konnte, wenn man sich nur bereit erklärte, die Augen zu öffnen, natürlich war Hoffmann zum Brigade-Unterstützer geworden, aus Rachegelüsten, von Krenz um sein Lebenswerk betrogen, das Regime, das ihn enttäuscht hatte, sollte dran glauben, Vorbereitung von jahrelanger Hand,
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