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Plan D

Plan D

Titel: Plan D Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simon Urban
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Schritte geradeaus und wurde sofort zum Wicht. Das Gästezimmer der Ulbrichtsuite war ein Tanzsaal von 70 bis 8 0 Quadratmetern mit ausufernder Sitzgruppe für mehr als fünfzehn Personen, einem phobosgroßen Schreibtisch, einem mercedesgroßen Himmelbett, einem Salonflügel und angeschlossener Wintergartenveranda. In einem Rollstuhl für ausgewachsene Seekühe thronte ein blasser Fleischberg. Der Berg war in beigefarbene Zelte gewickelt. Aus einer karierten Decke ragten zwei kürbisförmige Schuhe, die Godzilla bei seiner letzten Berlinreise vergessen haben musste.
    »Und Sie sind also die Polizei«, näselte der Fleischberg.
    »Hauptmann Martin Wegener«, sagte Wegener und versuchte, die Tür möglichst geräuschlos zu schließen.
    »Ich seh Sie trotzdem nicht.«
    »Sie sehen mich nicht?«
    »Das geht nicht gegen Sie, das geht gegen meine Augen. Dafür funktionieren die Ohren umso besser, leider. Hören Sie das?«
    »Die Musik?«
    »Musik! Das habe ich gehört, dass Sie das Musik genannt haben! Setzen Sie sich!« Ein beingroßer Arm klappte aus und deutete neben dem Fleischberg auf den Boden.
    Wegener zog ein zierliches Biedermeiersesselchen aus dem Esstisch-Ensemble, ging über den knarrenden Dielenboden zum Rollstuhl und stellte das Sesselchen ab. Frau Doktor Frommann war ein Massiv mit dem Kopf einer Normgreisin: weiße Löckchen, scharfe Züge, dunkler Oberlippenbartschatten und eine dicke Brille, hinter der zwei gekochte Hühnereier ins Nichts starrten.
    »Ihre Wohnung wird renoviert?« Wegener setzte sich.
    »Seit vorgestern. Und jetzt muss ich mir die Arien anhören, die hier täglich gesungen werden. Können Sie mir sagen, warum ausgerechnet das Appartement einer Blinden gestrichen wird? Hier hausen genug Gehörlose mit den grässlichsten Wänden!«
    »Da muss ich passen.«
    »Ich auch.« Frommanns Hände falteten sich auf der karierten Decke. Eine Zehnerpackung Bratwürstchen. »Die Margot hat ja leider einen gewissen Schaden. Tragische Geschichte. Das Alter ist eine Bergtour auf den Gipfel der Unverschämtheit.«
    »Demenz?« Wegener versuchte, mitleidig zu klingen.
    »Demenz, Depressionen, Schizophrenie, von allem etwas.« Frommann lächelte an ihm vorbei. »War so eine helle, strenge Person. Wir haben sie bewundert und gefürchtet, bewundert und gefürchtet! Aber seit zwei Jahren baut sie ab. Vorher so klar und jetzt immer wirrer. Der menschliche Verstand ist ein Becher Schmand in einer Heilanstalt für Adipositöse.«
    Wegener wusste nicht, wo er hinsehen sollte. »Aber sie singt.«
    »Biermann! Sie singt Biermann!« Der Fleischberg erzitterte. »Den ganzen Tag! Glaubt, sie wäre eine Widerstandskämpferin gegen ihren eigenen Erich, kann man sich das vorstellen!«
    Wegener wollte etwas sagen, aber der Fleischberg war schneller.
    »Nein, kann man nicht. Ich kann es mir ja selbst nicht vorstellen, obwohl ich es jeden Tag hören muss. Das Grün bricht aus den Zweigen! Wenn hier wer bricht, dann ich! Und die Psychiater erzählen was von sublimierter postintellektueller Aufarbeitung innerehelicher Konfliktstrukturen via Identifikation mit diametralen gesellschaftspolitischen Werteprojektionen. Da kommt es schon wieder!«
    Nebenan wurde die Stereoanlage aufgedreht. Rhythmische Gitarrenakkorde hackten sich durch die Wände, Wolf Biermann sang los, aber eine Gnomenstimme kreischte ihn sofort nieder, du, lass dich nicht verhärten , jemand schlug im Takt mit einer Krücke auf den Boden, in dieser harten Zeit ! Die allzu hart sind, brechen, Tack, Tack, Tack, die allzu spitz sind stechen und brechen ab sogleich! Und brechen ab sogleich! Tack, Tack, Tack, die Gnomenstimme überschlug sich, ließ den Text in Ruhe und schrie jetzt die Melodielinie mit, Ta-damm-ta-da-damm, Ta-damm-ta-da-damm !
    »Neulich war sie ganz durch den Wind«, klagte der Fleischberg, »da hat sie von der Maas bis an die Memel gegrölt. Das Leben ist ein abstürzender Paternoster im Finanzamt, Herr Polizist.«
    »Frau Fromman n …« Wegener rückte mit seinem Stuhl ein bisschen näher an den Sessel heran. »Ich würde gerne mit Ihnen über den Besuch von Albert Hoffmann reden. Vor einer Woche.«
    »Ach. Sie kennen Herrn Professor Hoffmann?«
    »Ja. Können Sie mir sagen, warum er bei Ihnen war?«
    Die zehn Würstchen falteten sich auseinander. »Das ist kein Geheimnis. Es ging um meine letzte Zeitkapsel.«
    »Ich fürchte, ich verstehe Sie nicht.«
    »Weil Sie nicht wissen, was eine Zeitkapsel ist.«
    »Nein. Nie gehört.«
    Der Fleischberg

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