Plan D
seufzte ein Seufzen, das aus unergründlichen Tiefen kam. »Das funktioniert so: Alle Schüler einer Schule schreiben die Wünsche und Hoffnungen auf, die sie für die Zukunft hege n – für ihre persönliche Zukunft und für die Zukunft des Sozialismus. Das wird alles gesammelt und in eine Zeitkapsel gefüllt und die Zeitkapsel wird vergraben, an einem Ort, den die Schüler nicht kennen. Fünfundzwanzig Jahre später gräbt man die Kapsel wieder aus, und jedem einzelnen Kind, das mittlerweile ein erwachsener, aufrechter Sozialist geworden ist, wird der Brief ausgehändigt, den das Kind fünfundzwanzig Jahre zuvor selbst geschrieben hat. Kommen Sie mit?«
»Durchaus.«
»So. Und dann sieht jeder Einzelne schwarz auf weiß, was er aus sich gemacht hat. Was er aus der DDR gemacht hat. Eine Mahnung durch die eigene Hand. Durch die eigenen Träume und Vorsätze. Sie verstehen?«
»Sie waren Lehrerin?«
»Rektorin.« Der Fleischberg schwoll noch ein bisschen mehr an, die Brust-Steilklippen wurden von einer plattentektonischen Verschiebung unter der Bluse ein gutes Stück nach oben gedrückt. »Drei Jahrzehnte ohne einen einzigen Krankheitstag, Her r …?«
»Wegener.«
Nebenan drehte jemand die Lautstärke bis zum Anschlag auf: Wir wolln es nicht verschweigen, in dieser Schweigezeit! Tack, Tack, Tack, das Grün bricht aus den Zweige n …
» … Herr Wegener. Am Mielke-Gymnasium Pankow. Wenn die Margot doch endlich mal ruhig wäre! Margot!«
… dann wissen sie Bescheid! Dann wissen sie Bescheid! Ta-damm-ta-da-damm, Ta-damm-ta-da-damm !
»Und da ist die Tochter von Herrn Hoffmann zur Schule gegangen.«
»Nicht die Tochter!« Der Normkopf wackelte ärgerlich. »Die Tochter einer Kollegin von Professor Hoffmann. Er war ihr Patenonkel. Professor Hoffmann hatte selbst keine Kinder. Das Glück ist eine chinesische Kondomfabrik, wenn Sie verstehen, was ich meine.«
»Marie Schütz.«
»Ja, unsere süße, kleine Mari e …« Die Würstchen falteten sich wieder ineinander, die Hühnereieraugen schlossen sich, das tiefe Seufzen kam zurück.
Wegener versuchte, das Geschrei im Nebenzimmer zu ignorieren. »Und was hat Herr Hoffmann mit der Zeitkapsel zu tun?«
Die Augen klappten wieder auf. »Er hat mir damals geholfen, sie zu vergraben. Im Ma i 91. Da konnte ich noch alles. Sehen, gehen, stehen. Der Zynismus ist ein Methusalem, der im Jungbrunnen ertrinkt.«
Wegener merkte, dass seine Hände nervös ineinander griffen. »Sie und Herr Hoffmann haben diese Kapsel vergraben. Im Wald am Müggelsee.«
»Natürlich. Hat Ihnen Professor Hoffmann das erzählt?«
»Und nur Sie beide wussten, wo die Kapsel lag. Niemand sonst.«
»Professor Hoffmann hat das Kartografieren in die Hand genommen, mit irgendwelchen Koordinaten.« Der Fleischberg versuchte ächzend, sich in seinem Sessel aufzurichten. »Da treffen sich bestimmte Grade, fragen Sie mich nicht, ich hab Deutsch und Geschichte unterrichtet. Aber Professor Hoffmann wollte das ganz exakt haben, damit nichts passieren kann. Der Zufall ist eine rostige Schraube am AKW Greifswald!«
»Und diese Koordinaten hat Professor Hoffmann am 17 . Oktober bei Ihnen abgeholt.«
»Ja.«
»Hat er gesagt, warum?«
»Natürlich. Am Müggelsee wird gebaut, irgendwelche Reparaturen an einer Pipeline. Die graben den halben Wald um. Er musste die Zeitkapsel in Sicherheit bringen.«
»Und er selbst besaß die Koordinaten nicht?«
»Außer mir durfte ja keiner wissen, wo sich die Kapsel befindet. Professor Hoffmann hat darauf bestanden, sich an die Regeln zu halten, der korrekte Mensch. Das mit den Bauarbeiten war ein Notfall, verstehen Sie?«
»Absolut.«
»Die Kapsel wird ja schon in fünf Jahren gehoben. Wer weiß, ob ich das überhaupt noch erlebe. Geht ja so schnell rum alles, Herr Polizist. Die Zeit ist ein Düsenjäger mit, wenn ich das so offen sagen darf, Dünnpfiff.«
»Was wollte Professor Hoffmann denn mit der Kapsel machen?«
»Nun, der Professor wollte die Kapsel an einer anderen Stelle vergraben und mir die neue Karte vorbeibringen. Vergessen hat er es bestimmt nicht, vielleicht ist ihm was dazwischengekommen.«
Nebenan waren Musik und Geschrei schlagartig verstummt. Jetzt klopfte es kurz und energisch. Im gleichen Moment ging die Tür auf, und eine junge, asiatische Pflegerin balancierte ein Tablett mit Teekanne, Teetasse und Stövchen herein.
»Marilou?«
»Hier kommt Ihr Hagebuttentee, Frau Doktor Frommann!« Die Pflegerin nickte Wegener zu und stellte das Tablett
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