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Plan D

Plan D

Titel: Plan D Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simon Urban
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beide seid mir schöne Heilige, die sedierte Sünderin und das exrotbraune Gerippe, ein Traumduo der Orientierungslosigkeit. Wenn ihr unbedingt jemanden beschimpfen wollt, schaut euch gegenseitig an. Wird hart, hilft aber.
    Ich kann mich von oben sehen, dachte Wegener, wie ich über den menschenleeren Hof gehe, vorbei an der Stelle, an der Kayser den Mercedes geparkt hat, als er noch lebte, vor gerade mal einer Woche, sein Mörder läuft frei herum, aber auch dieser Mörder wird irgendwann über einen Zufall stolpern, und jetzt ich hier allein, ohne Kayser, ohne Brendel, ohne Mercedes, verpackt in die Kälte und Trübheit des Ostens, ein schwarzer Punkt auf einer dunkelgrauen Fläche, eine langsame, stete Bewegung hin zu einem unbeweglichen Ziel. Einsame Entscheidungen ziehen einsame Wege nach sich, das war doch wohl klar gewesen, alles aus dem Blickwinkel des Geradegestorbenen, der aus unverständlichen Gründen auf sich selbst herabschaut, der Martin Wegener seinen Gang machen sieht, gemächlich und unaufhaltsam, ohne jede Reue, ohne jede Vorfreude, ohne jede Angst, wissend, dass Wissen nichts verändern wird, unterwegs in der Optik eines Achtzigerjahrecomputerspiels: Steuern Sie den Volkspolizeibeamten (Vpb) auf möglichst direktem Weg über die rechteckige Betonfläche zum Häuschen des wachhabenden Offiziers, dann zum Wabenvorbau des Entrées, durch die gläsernen Türen in die Höhle des Löwen, in den Staubgeruch, Bohnerwachsgeruch, Zitrusreinigergeruch, vor den Schalter, an dem heute Abend kein rothaariger Teigklumpen sitzt, sondern eine gar nicht mal unhübsche Zopfträgerin, vielleicht wird etwas zu viel Schminke sichtbar, als sie den Kopf schief legt, um die Unterlagen zu prüfen, und das Deckenlicht plötzlich so heftig in ihr vollgepudertes Gesicht einschlägt, dass es eigentlich hautfarben stauben müsste. Wegener stand unbeweglich, atmete durch den Mund, wollte nichts riechen, während diese Staatssicherheitsempfangsbeamtin den Terminschein abnickte, das Besuchsvisum stempelte, eine Liste aus der Schublade zog, etwas aufschrieb, den Begleitoffizier herbeitelefonierte, sogar lächelte, als sie Schein und Visum zurückgab. Wie die Schalterfrauen der Bahn. Die eine gute Reise wünschen, wohin auch immer es geht.
    Wegener bemühte sich, dem Begleitoffizier zu folgen, der eher vor ihm zu flüchten schien, als ihn zu begleiten, der ein Fluchtoffizier war und in Flure lief, die keine Türen hatten, Wachposten passierte und Zeichen machte, Schein und Visum stecken zu lassen, die Begleitung eines Fluchtoffiziers war Eintrittskarte genug, ein Treppenhaus hinunter ins erste Untergeschoss, Wegeners Blick blieb an Reihen von Metallschränken hängen, hinter Glastüren blinkten Lämpchen neben kunterbunten Kabelsträngen, das hatte er alles schon einmal gesehen, bei Nacht und ohne Begleitung, noch ein Flur, noch eine Kontrolle, dahinter das Empfangspult einer Bibliothek, ein akkurat gekleideter Anzugträger mit Namensschild, A. Butt , der sich den Terminschein ansah, den Stempel des Visums prüfte, einen zweiten Stempel daneben drückte, beide Papiere in eine Hängeregistratur einsortierte und dafür drei knappe, hellgrüne Altpapierformularblätter ausfüllte, die er stumm über den Tresen reichte: Genehmigung zur Kenntnisnahme des Staatssicherheits-Überwachungsvorgangs STÜ:1355/HA-A . T.2011, Genehmigung zur Kenntnisnahme des Staatssicherheits-Überwachungsvorgangs STÜ:1369/HA-A . F.2011, Genehmigung zur Kenntnisnahme des Staatssicherheits-Überwachungsvorgangs STÜ:1012/HA-A . F.2010.
    Drei Minuten später saß Wegener in einem niedrigen Raum zwischen dunkelblauem Teppichboden und unverkleideten Leuchtstoffröhren auf einem Holzstuhl vor einem Holztisch. Genauso hatte er gesessen bei seiner Suche nach Josef dem Verschollenen, vielleicht nicht auf diesem Holzstuhl, aber auf einem ähnlichen, vielleicht nicht in diesem Raum, aber höchstens ein paar Türen weiter, war immer wieder aufgestanden, um sich neue Papierberge aus neuen Aktenschränken zu holen, die alles enthielten, nur keinen Hinweis auf Früchtl, war erst nervös geworden, dann panisch, dann schwachsinnig, hatte schließlich begriffen, dass man hier nichts erreichen konnte, dass man niemals fündig werden würde, auch wenn man sein ganzes Leben im Normannenstraßenkeller verbrachte, weil diese gigantische Informationssammlung, diese minutiöse Müllhalde sämtlicher ostdeutschen Biografien, dieser vollständige Vergangenheitsfriedhof des DDR-Alltags

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