Plan D
umgerührt wurde, aus dem nur noch vereinzelt etwas auftauchte, für Sekundenbruchteile, ein knallblaues Kopftuch, ein alter Mann mit fünf Hunden an der Leine, ein Betrunkener, der aus einer Eckkneipe kam, gestützt auf einen Kleinen mit Hornbrille. Der Phobos Universal ging in die Kurve. Wegener hielt sich mit einer Hand am Deckengriff fest, mit der anderen an der Kopflehne des Vordersitzes, alles sackte nach links ab, der Vollbärtige umarmte sein Lenkrad, stemmte sich gegen die Fliehkraft. Die Reifen winselten. Wegener hatte das Gefühl, gleich den Griff aus dem Wagendach zu reißen. Dann plötzlich wieder gerade Strecke, der Universal warf sich nach rechts, fing sich, Wegener krachte gegen die Tür, der Vollbärtige riss das Steuer herum, wich einem beigefarbenen Lada aus, Todesangstaugen im Rückspiegel, der Blick eines Harakiri-Piloten. Wegener merkte, wie ihm der Plastikgriff aus der Hand rutschte. Er kippte auf die Rückbank, seine Nase bohrte sich in das muffige, braungraugrünliche Polster, er roch Zigaretten, Plastik, Parfum, ungelüftetes Schlafzimmer. Voss musste hier drin längere Strecken transportiert worden sein. Der Vollbärtige verschaltete sich und gab Gas. Spurwechsel. Jemand hupte.
Wegener überlegte, ob er sich wieder aufsetzen sollte und blieb liegen. Drehte sich auf den Rücken. Streckte sich aus, so gut es ging. Zahllose kleine Löcher in der cremefarbenen Kunstlederbespannung des Dachs. Zu den B-Säulen hin wechselte die Farbe in sattes Nikotingelb. Graue Schonbezüge über den Kopflehnen. Die dünnen Heizdrähte des Rückfensters linierten einen farblosen Himmel, ab und zu wischten Baumkronen durchs Bild, Stromleitungen, Fußgängerbrücken, Ampelanlagen, die dem Vollbärtigen gleichgültig waren. Wegener musste daran denken, wie er sich als Kind mit angezogenen Beinen auf die Miniaturrückbank des hellblauen Trabants namens Hannibal gequetscht hatte, wenn seine Eltern mit ihm an die Ostsee gefahren waren oder in den Thüringer Wald oder die zwei Male nach Prag. Liegen war die optimale Reiseposition gewesen. Man sah niemanden, man wurde nicht gesehen. Nicht von Passanten, nicht von anderen Autofahrern, nicht mal von IFA-Kutschern. Und erst recht nicht von den Eltern. Die saßen verschanzt hinter den Rückenlehnen ihren Vordersitzen, fuhren jede Strecke zu zweit, lasen Ortsschilder zu zweit, trafen Überhol-Entscheidungen zu zweit, beschlossen gemeinsam, wann und wie heftig zu hupen war, warnten sich gegenseitig vor zu dichtem Auffahren, vor unübersichtlichen Kurven, vor möglichem Nebel in Moor-Gebieten, drehten sich von Berlin bis Boltenhagen nicht einmal um, solange es hinten ruhig war. Wie ein Bett mit Dach und Fenstern war Wegener der Trabant damals vorgekommen, wie ein Bett, das für immer unter grauem oder blauem oder wolkigem Himmel reiste, geschützt gegen Regen und Schnee, überheizt, blickdicht, selbstlenkend, auf wechselndem Untergrund, den man erraten konnte: Teer, Kies, Sand, Feldwege, löchrige Parkplätze, Autobahnplatten. Mehr als 4 0 Jahre waren seitdem vergangen, sämtliche Rückbänke zu klein geworden, die Eltern nach all ihren gemeinsamen Reisen längst zusammen auf dem Friedhof Weißensee angekommen, in einem efeuüberwucherten Doppelgrab, in dem sie sich vermutlich gegenseitig berieten, was mit dieser eintönigen Unendlichkeit anzufangen sei, welche Erinnerungen es wert wären, immer wieder aufgefrischt zu werden, was man vergessen könne, für wen gebetet werden solle und wie oft und ob der Vater die Sonntagsreden über seine ruhmreiche Zeit im Kombinat Separatorenfleisch Peter Hacks auch nach dem eigenen Tod und der Schließung des Kombinats Separatorenfleisch Peter Hacks noch halten müsse und falls ja, ob das dann nicht wenigstens ein bisschen kürzer ginge.
Jetzt konnte Wegener nur noch mit dem Oberkörper auf Rückbänken liegen, für die Beine war kein Platz mehr, statt des Vaters saß ein panischer Vollbart hinterm Lenkrad, der Wagen schaukelte nicht, er vibrierte, es ging nicht zur Ostsee, sondern zum ehemaligen Reichsbankgebäude am Werderschen Markt, in der übelsten Karre aus dem ganzen SED-Fuhrpark, mit Blaulicht, eine Stunde vor Dienstbeginn und ohne jede Erklärung. Wegener nahm sich vor, bei der nächsten Gelegenheit am Friedhof zu halten und das Efeu zurückzuschneiden. Du wirst uns vergessen, hatte seine Mutter gesagt, wenn wir mal nicht mehr sind, du bist ein Einzelkind, du wirst die Verlängerung der Grabstelle verpassen, du wirst eines Tages
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