Planeten 05 - Saturn
über die zerklüftete Eislandschaft wanderte ‒ ein kriechendes Schleim-Monster, das alles auf seinem Weg verschluckte, häusergroße Eisbrocken zudeckte und den gefrorenen Boden mit zischendem, blubberndem schwarzem Öl bedeckte, das die Welt von einem Horizont zum andern überflutete. Bald würde die Flut sogar den Vorsprung überschwemmen, auf dem Urbain stand, und sich über den halben Titan ausbreiten, bevor sie wieder zurückschwappte.
Eines Tages werde ich an diesem Meer stehen, sagte Urbain sich. Ich werde mit wissenschaftlicher Ausrüstung anrücken und in der schwarzen, öligen Flüssigkeit nach lebenden Organismen suchen. Eines Tages.
Seufzend schaute er sich beim Wiedereintritt in die Realität in seinem engen, kleinen Büro um. Er wusste, dass niemand die Oberfläche des Titan betreten würde ‒ auf viele Jahre hinaus nicht.
Dann fiel sein Blick auf die dreidimensionale Abbildung des Landegeräts, das über seinem Schreibtisch schwebte. Es wirkte plump und träge, doch für Urbain war es ein Symbol für pragmatische Eleganz. Du wirst auf die Oberfläche des Titan hinabsteigen, meine Schöne, sagte er stumm zu der Projektion.
Die Konstruktion des Landegeräts war im Grunde ein Kinderspiel gewesen, wurde er sich bewusst. Es war unter seiner gründlichen Aufsicht von seinen Ingenieuren und Technikern gebaut worden. Dieser Teil war wirklich recht einfach gewesen.
Die eigentliche Herausforderung bestand darin, dieses Habitat zum Saturn zu bringen und in einer Umlaufbahn um den Ringplaneten zu stationieren, so dass Urbain und seine Wissenschaftler das Landegerät in Echtzeit zu steuern vermochten.
Die Zeit hatte frühere Versuche zunichte gemacht, eine Fernerkundung des Titan durchzuführen. Es dauerte mehr als eine Stunde, ein Signal von der Erde zum Saturn zu senden, selbst wenn die beiden Planeten sich am nächsten standen.
Ferngesteuerte Sonden scheiterten ungeachtet der technischen Raffinesse an dieser Zeitverzögerung. Für Jahrzehnte hatten Wissenschaftler auf der Erde frustriert mit den Zähnen geknirscht, während eine Sonde nach der anderen in Bodenspalten fiel oder von öligem schwarzem Schnee überzogen wurde, nur weil es Stunden dauerte, bis die menschlichen Controller ihnen die entsprechenden Anweisungen zu geben vermochten.
Das war einmal, sagte Urbain sich. Nun werden wir das Landegerät aus einer Entfernung von ein paar Lichtsekunden kontrollieren. Notfalls können wir auch einen Befehlsstand im Orbit um Titan selbst platzieren und die Reaktionszeit auf weniger als eine Sekunde reduzieren.
Aber er wusste auch, dass kein Mensch den Fuß auf den Titan setzen würde. Nicht für viele Jahre. Der Gedanke betrübte ihn zutiefst. Er wollte selbst über diese kalte, dunkle Oberfläche aus schwarzem Eis stapfen. Im tiefsten Innern wollte Edouard Urbain der erste Mensch sein, der die Oberfläche des Titan betrat.
317 Tage nach dem Start
»Meine Güte, hier unten sieht es aus wie in einem Filmstudio.«
Holly führte Manuel Gaeta durch den Versorgungstunnel, der unterm Dorf verlief. Deckenlampen schalteten sich automatisch ein, während sie durch den Tunnel gingen, und erloschen wieder, als sie vorbei waren. Die Wände waren mit Kabelbäumen, Rohrleitungen, Ventilen, Steuerpulten und im Abstand von hundert Metern mit Bildtelefonen gesäumt. An der Decke verliefen Rohrleitungen mit Farbcodes: Blau für Trinkwasser, Gelb für Abwasser, das zur Kläranlage floss, und Rot für Warmwasser, das den Wärmeaustauschern außen am Habitat zugeführt wurde. Der Tunnel hallte wider vom Summen der Pumpen und elektrischen Ausrüstung. Holly spürte die Vibrationen der metallenen Bodenplatten durch die Sohlen der Soft-Boots.
»Was ist ein Filmstudio?«, fragte sie.
»Wo man Videos dreht«, erwiderte Gaeta und ließ den Blick über die Rohrleitungen schweifen. »Wenn man eine Szene im alten Rom spielen will, baut man eine Kulisse, die so aussieht wie das alte Rom, müssen Sie wissen.«
»Ach ja. Ich verstehe. Aber warum sieht das hier wie ein Filmstudio aus?«
Er grinste. »Schauen Sie einmal auf die Rückseite einer Kulisse. Sie ist nur eine Fassade, normalerweise aus Plastik.
Beim Blick hinter die Kulissen sieht man, dass sie mit Balken und Gerüsten gestützt werden.«
»Und dieser Ort erinnert sie daran?«, fragte sie verwirrt.
»Quasi«, erwiderte er. »Ich meine, ein paar Dutzend Meter über unseren Köpfen ist das Dorf…«
»Nein, wir sind schon unterm Dorf durch«, berichtigte Holly ihn.
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