Plasma
der Seite. Sie hatten ihre Schutzbrillen und Kapuzen aufgesetzt und waren wieder gesichtslos, aber Ruth legte ihm die Hand auf die Schulter und nickte. Sonnenstrahlen sickerten durch das Geäst und umspielten ihre schmutzverkrusteten Jacken. Sie mussten zwar los, aber er hatte Angst vor dem Aufbruch. Sein Knie war geschwollen, Rücken und Schultern fühlten sich steif an, und seine Füße waren wund gescheuert.
Aus dem Funkgerät drang auf sieben Kanälen Stimmengewirr. Vielleicht war das immer so gewesen, aber bis jetzt hatten die Berge und wohl auch ein Störsender des vorgeschobenen Stützpunkts von Leadville den Lärm abgeblockt. Beide Hindernisse waren verschwunden.
Alle Funksprüche kamen vom Militär. Und alle klangen amerikanisch, bis auf eine weibliche Stimme mit starkem Akzent: »Kondor, Kondor, hier spricht Schnee-Eule Fünf. Wir bestätigen Eins Eins Vier. Ich wiederhole, wir bestätigen Eins Eins Vier.«
»Sie scheint Französin zu sein«, sagte Ruth.
Die meisten Botschaften waren ähnlich chiffriert, Zahlen und Vogelnamen. Der rege Funkverkehr hätte ihn eigentlich beruhigen sollen. Amerika ließ sich selbst jetzt nicht völlig unterkriegen. Aber Cam traute keinem. Ihm war klar, dass er Ruth in Sicherheit bringen musste, falls Newcombe nicht wiederkam. Er musste mit den Rebellen Kontakt aufnehmen, aber er hielt es für sehr, sehr riskant, sich in den Äther zu tasten. Schlimmer noch, sämtliche Frequenzen, die Newcombe ihm genannt hatte, waren besetzt. Sein Instinkt riet ihm, auf Tauchstation zu bleiben.
Sie teilten sich zum Frühstück drei Sportriegel und schluckten mühsam eine Handvoll Pillen, jeder vier Aspirin und zwei Antihistamin-Tabletten. Das Zeug würde ihre Benommenheit zwar noch verstärken, aber die Ameisenbisse juckten so grässlich, dass sie sich beide ständig kratzten.
Schließlich sendete Cam einfach über das Stimmengewirr hinweg. »Newcombe«, sagte er, »Newcombe, sind Sie da?« Keine Reaktion. Ihm fehlte die Sendeleistung, um Utah oder Idaho zu erreichen, und in der näheren Umgebung hörte offensichtlich niemand den Kanal ab.
Sie waren allein.
Sie gingen weiter.
Sie gingen weiter, nicht zu schnell, um Ruths Kräfte zu schonen. Außerdem gestattete das gemächlichere Tempo Cam, das Gelände sorgfältiger zu sondieren. Sie gerieten an einen Termitenschwarm und zogen sich rasch zurück, um die Insekten nicht zu stören. Der Schwarm stieg gerade auf, aber Cam hoffte, dass dieser Vorgang nicht so ungewöhnlich war, dass er Späher auf den Plan rief. Das war wichtig. Durch die Bäume konnte er kaum etwas erkennen, aber er hörte immer noch Flugzeuge, und der Feind hatte sicher Beobachter auf den umliegenden Gipfeln verteilt. Einmal jagte eine Maschine so niedrig über den Wald hinweg, dass die Baumkronen erzitterten. Suchte der Gegner mit Infrarotkameras nach ihnen?
Eine Stunde später führte Cam Ruth an einen Wasserlauf, dort ließen sie sich beide auf das abbröckelnde Ufer sinken. Er beugte sich nach unten und trank aus dem Bach. Ruth hatte es mit ihrem gebrochenen Arm schwerer. Sie schöpfte das Wasser mit dem Handschuh und benetzte damit immer wieder ihre Lippen, bis Cam seinen schlimmsten Durst gestillt hatte und ihre Feldflasche füllte.
»Nicht zu viel«, warnte er, »sonst wird dir schlecht.«
Ruth nickte nur und spritzte sich lachend Wasser ins Gesicht und in die Haare. Ihr Lachen klang wie ein müdes Husten, aber Cam war wie gebannt, als er es hörte.
Ihre Wunden und ihre Erschöpfung hatten sie in mancher Hinsicht kindisch gemacht. Sie richteten ihre Blicke und ihre Aufmerksamkeit nur auf das Hier und Jetzt. Vielleicht war das auch gut so. Kein Mensch konnte auf Dauer Schmerzen ertragen, ohne den Verstand zu verlieren. Es war ein Überlebensmechanismus – aber nicht ganz ungefährlich.
Cam zwang sich, aufzustehen und nach einem günstigeren Blickwinkel zu suchen.
»Warte!« Ruth rappelte sich hoch, als sie sah, dass er sich entfernte.
»Ich will doch nur …«
»Warte!«
Sie holte ihn ein. Er fand eine Lücke zwischen den Bäumen, die freie Sicht auf die lang gezogenen Berghänge im Westen und Süden bot. In beiden Richtungen stieg aus dem Wald Rauch auf.
»Schlafen wir ein wenig«, schlug er vor. »Okay?«
Ruth nickte, aber erst als er sich gesetzt hatte, nahm auch sie Platz und lehnte sich an seine Schulter. Es war eine seltsame Liebe. Irgendwie geschwisterlich. Sie waren in ihrer vor Schmutz starrenden Schutzkleidung beide unerreichbar, aber das
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