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Titel: Plattform Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michel Houellebecq
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Augenblick, da wir den verglasten Anbau des Restaurants betraten.
        Nach dem Essen, kurz bevor wir zum Bahnhof fuhren, statteten wir Valéries Eltern noch einen Besuch ab. Sie würde wieder furchtbar viel Arbeit haben, erklärte sie ihnen; sie könne wahrscheinlich vor Weihnachten nicht wiederkommen. Ihr Vater blickte sie mit einem resignierten Lächeln an. Sie war eine gute Tochter, sagte ich mir, eine liebevolle, aufmerksame Tochter; sie war auch eine sinnliche, zärtliche Liebhaberin voller Erfindungsgeist; und sie würde gegebenenfalls bestimmt eine liebevolle, vernünftige Mutter sein. »Ihre Füße sind aus feinem Gold, ihre Beine wie die Säulen des Tempels in Jerusalem.« Ich fragte mich wieder, was ich eigentlich getan hatte, um eine Frau wie Valérie zu verdienen. Vermutlich nichts. Ich kann die Entwicklung der Welt nur feststellen, sagte ich mir; ich gehe empirisch und gutwillig vor und stelle sie fest ; mir bleibt nichts anderes, als sie festzustellen.

    12

    Ende Oktober starb Jean-Yves' Vater. Audrey weigerte sich, Jean-Yves zur Beerdingung zu begleiten ; damit hatte er im übrigen gerechnet, er hatte sie nur aus Prinzip gefragt. Es würde eine kleine Beerdigung werden: Er hatte keine Geschwister, ein paar Angehörige würden kommen, kaum Freunde. Im Rundbrief der ehemaligen Studenten der ESAT würde eine kleine Todesanzeige erscheinen; das war auch schon alles. Die Spur würde sich verlieren, in der letzten Zeit hatte er zu niemandem mehr Kontakt gehabt. Jean-Yves hatte nie recht begriffen, was ihn veranlaßt hatte, seinen Ruhestand in dieser uninteressanten, im schlechtesten Sinne des Wortes bäuerlichen Gegend zu verbringen, in der er niemanden kannte. Vermutlich eine letzte Spur des Masochismus, der ihn mehr oder weniger sein ganzes Leben lang begleitet hatte. Nach einem glänzenden Hochschulabschluß hatte er darauf verzichtet, Karriere zu machen, und sich mit dem monotonen Leben eines Ingenieurs in der Herstellung begnügt. Auch wenn er immer davon geträumt hatte, eine Tochter zu haben, hatte er sich absichtlich auf ein einziges Kind beschränkt - mit dem Ziel, ihm, wie er behauptete, eine bessere Ausbildung zu ermöglichen; das Argument stach nicht wirklich, denn er bezog ein recht gutes Gehalt. Er machte den Eindruck, als verbinde ihn eher die Gewohnheit als die Liebe mit seiner Frau ; er war möglicherweise stolz auf den beruflichen Erfolg seines Sohnes - andererseits sprach er jedoch nie darüber. Er hatte kein Hobby und kein Interesse an irgendwelchen Vergnügen, abgesehen von der Kaninchenzucht und den Kreuzworträtseln in der République du Centre-Ouest. Man vermutet wohl zu Un
    recht bei allen Menschen eine geheime Leidenschaft, eine verborgene Seite, eine Spaltung; wenn Jean-Yves' Vater seine ganz persönliche Überzeugung, den tieferen Sinn, den er im Leben sah, hätte darlegen sollen, hätte er vermutlich nur eine leichte Enttäuschung geäußert. Tatsächlich beschränkte sich sein Lieblingssatz, der Satz, den er, soweit Jean-Yves sich erinnern konnte, am häufigsten ausgesprochen hatte und der am besten seine Erfahrung des menschlichen Lebens zusammenfaßte, auf die Worte : » Man wird älter. «
        Der Mutter ging sein Tod in geziemender Weise zu Herzen - immerhin verband sie ein langes, gemeinsames Leben -, ohne daß sie wirkliche Erschütterung zeigte. »In der letzten Zeit haben seine Kräfte immer mehr nachgelassen...«, sagte sie. Die Todesursache war so ungewiß, daß man ebensogut von allgemeiner Erschöpfung oder gar Entmutigung hätte sprechen können. »Er hatte zu nichts mehr Lust...«, sagte Jean-Yves' Mutter auch noch. Das war in etwa ihre Leichenrede.
        Audreys Abwesenheit fiel natürlich auf, aber seine Mutter unterließ es, während der Trauerfeier darauf anzuspielen. Das Abendessen war einfach - aber sie war sowieso nie eine gute Köchin gewesen. Er wußte genau, daß sie das Thema irgendwann ansprechen würde. Angesichts der Umstände war es ziemlich schwierig, der Sache auszuweichen, indem er zum Beispiel den Fernseher anstellte, wie er es häufig getan hatte. Seine Mutter räumte den Rest des Geschirrs weg, dann setzte sie sich ihm gegenüber und stützte die Ellbogen auf den Tisch.
        »Wie läuft es mit deiner Frau?«
        »Nicht besonders ...« Er berichtete ein paar Minuten lang, verlor sich nach und nach in seinen eigenen Schwierigkeiten; zum Schluß teilte er seine Absicht mit, sich scheiden zu lassen. Er wußte, daß seine

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