Plötzlich Fee - Winternacht - Kagawa, J: Plötzlich Fee - Winternacht - The Iron Fey, Book 2: The Iron Daughter
der so ausgemergelt war, dass sich die Wirbelsäule unter der Haut abzeichnete.
Das Lied endete in einem letzten durchdringenden Akkord. Als die Töne verklangen und sich Stille ausbreitete, blieb der Mann gebeugt über den Tasten sitzen. Ich konnte sein Gesicht nicht sehen, glaubte aber, dass seine Augen geschlossen waren. Seine Muskeln zitterten, als wäre er völlig erschöpft. Er schien auf etwas zu warten. Ich sah zu den anderen und fragte mich, ob wir applaudieren sollten.
Von der Freitreppe her erklang ein träges Klatschen. Als ich hochschaute, sah ich niemand anders als Grimalkin, der auf dem Geländer saß, den Schwanz um die Pfoten drapiert, und sich offenbar wie zu Hause fühlte. Jegliche Wut auf ihn verpuffte, als ich seine Begleiterin entdeckte.
Auf der Empore stand eine Frau in einem rotgoldenen Kleid, das sich um ihre Füße bauschte. Ich war mir absolut sicher, dass dort vor einer Sekunde noch niemand gewesen war. Ihr lockiges kupferfarbenes Haar, das ihr bis zur Hüfte reichte, schimmerte so hell, dass man es kaum ansehen konnte, und schwebte um ihr Gesicht, als wäre es völlig gewichtslos. Sie war groß, blass, absolut umwerfend und durch und durch königlich. Mein Magen krampfte sich zusammen. Vergesst Arkadia oder Tir Na Nog – jetzt befanden wir uns an ihrem Hof und spielten nach ihren Regeln. Ich fragte mich, ob sie eine Verbeugung erwartete.
»Bravo, Charles.« Ihre Stimme war reinste Musik, klanggewordene Poesie, und spiegelte jeden kreativen Gedanken, von dem man je gehört hatte. Sie weckte in mir das Gefühl, ich könnte mich hier und jetzt auf eine Bühne stellen und die Massen mitreißen, bis sie schrien und jubelten. »Das war wirklich ausgezeichnet. Du kannst jetzt gehen.«
Der Mann erhob sich unsicher und grinste dabei wie ein kleines Kind, das gerade vom Lehrer für seine Fingermalerei gelobt wurde. Er war jünger als mein Stiefvater, wenn auch nicht viel, und feine Bartstoppeln überzogen seinen Mund und sein Kinn. Als er sich umdrehte und uns entdeckte, erschauderte ich. Weder in seinem Gesicht noch in seinen braunen Augen fand sich ein Funken Verstand, sie waren so leer wie ein wolkenloser Sommerhimmel.
»Armes Schwein«, hörte ich Puck murmeln. »Der ist schon eine Weile hier, was?«
Der Mann blinzelte mir benommen zu, dann wurde sein Grinsen noch breiter. »Du«, murmelte er, schlurfte vorwärts und zeigte mit dem Finger auf mich. Ich sah erschrocken drein. »Ich kenne dich. Oder nicht? Oder nicht? Wer bist du? Wer?« Sein Gesicht verzerrte sich zu einer gequälten Grimasse. »Die Ratten flüstern in der Dunkelheit«, sagte er und zerrte an seinen Haaren. »Sie flüstern. Ich kann mich nicht an ihre Namen erinnern. Sie erzählen
mir …« Er kniff die Augen zusammen, sah mich an und keuchte. »Lumpenmädchen fliegt um mein Bett. Wer bist du? Wer? « Das Letzte brüllte er und taumelte auf mich zu.
Eisenpferd schob sich mit einem kehligen Grollen zwischen uns. Der Mann sprang zurück und schlug die Hände vors Gesicht. »Nein«, wimmerte er, wand sich auf dem Boden und umschlang den Kopf mit den Armen. »Niemand da. Leer, leer, leer. Wer bin ich? Ich weiß es nicht. Die Ratten sagen es mir, aber ich vergesse es immer wieder.«
»Das reicht jetzt.« Leanansidhe schwebte die Treppe hinunter, wobei ihr Kleid in einer langen Schleppe hinter ihr her glitt. In einer fließenden Bewegung rauschte sie zu dem Menschen und berührte ihn sanft am Kopf. »Mein lieber Charles, ich habe jetzt Gäste«, murmelte sie, als er mit tränenverschleiertem Blick zu ihr aufsah. »Warum nimmst du nicht ein Bad? Und dann kannst du beim Abendessen wieder für uns spielen.«
Charles schniefte. »Mädchen«, wimmerte er und raufte sich wieder die Haare. »In meinem Kopf.«
»Ja, ich weiß, mein Lieber. Aber wenn du jetzt nicht gehst, werde ich dich in eine Harfe verwandeln müssen. Also, geh jetzt. Husch, husch.« Sie wedelte leicht mit den Händen, und nachdem er einen letzten Blick auf mich geworfen hatte, schlurfte der Mann davon.
Leanansidhe drehte sich seufzend zu uns um und erst da schien sie das Trio zu bemerken. »Ah, da seid ihr ja.« Sie lächelte und sofort erhellten sich die Gesichter der drei im Schein ihrer Aufmerksamkeit. »Ist es euch gelungen, die Eier zu bekommen, meine Lieben?«
Warren riss Nelson den Rucksack aus den Armen und streckte ihn ihr hin. »Wir haben das Nest gefunden, Leanansidhe. Es war genau da, wo du gesagt hast. Aber dann ist der Drache aufgewacht und …«
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