Plötzlich Royal
suchte den Ablauf der Parlamentseröffnung. Die Zeit reichte jedoch nicht, um den ganzen Teil über die Zeremonie nochmals zu lesen. Mit einem Kugelschreiber markierte ich mir besonders wichtige Stellen.
„Easy, Sascha! Erst musst du nur würdevoll die Normannentreppe hochgehen und gleich nach rechts in den Umkleideraum. Händchenhalten wäre deplatziert, das durfte Prince Philip auch nicht. Du musst winken und lächeln, nicht lesen“, versuchte mich Simon zu beruhigen.
Trotzdem traute ich der Sache nicht ganz, legte den Ordner weg und steckte den Kugelschreiber in die Hosentasche. Nach dem Londoner Wahrzeichen Big Ben wurden wir langsamer, und draußen spielte eine Kapelle ein paar Takte der Hymne, während wir am Westminster Palace, dem britischen Parlamentsgebäude, entlangfuhren.
„Schau, der Union Jack wird durch die königliche Standarte ersetzt“, bemerkte Simon und versuchte so ruhig wie möglich zu klingen. Doch als ich nach oben zur Flagge sehen wollte, fuhren wir schon durch ein sehr hohes Tor in den Victoria Tower am Südende des Parlamentsgebäudes hinein. Der Wagen hielt an. Ein rot Kostümierter öffnete die Tür des Wagens, es wurde eine Fanfare geschmettert.
„Cheese, Sascha! Jetzt nur noch lächeln.“
Ich versuchte mich freundlich und selbstbewusst zu zeigen, stieg aus dem Wagen und drehte mich zu Simon um, der ebenfalls ausstieg. Es fiel nicht weiter auf, dass unsere pechschwarzen Hosen eigentlich Jeans waren.
„Lord Great Chamberlain“ war der Titel des Zeremonienmeisters des Parlaments. Er begrüßte uns und ging voran mit dem weißen Stab in der Hand, der seine Autorität im Palast von Westminster symbolisierte. Er war gar nicht so uralt, wie ich es erwartet hatte. Die Prozession setzte sich nun in Bewegung und wir schritten die mit blauem Teppich belegte Normannentreppe hoch, an deren Seiten ein Spalier Wachen stand. Eine logistische Meisterleistung der Briten, dies alles im wahrsten Sinne des Wortes über Nacht aus dem Boden zu stampfen. Simon ging immer ganz leicht hinter mir. Oben an der Treppe bemerkte ich David Cramer, der das Geschehen stehend mit sorgenvoller Miene von weiter links bobachtete. Ich musste nach rechts zum Umkleideraum. Eine BBC-Kamera folgte uns bis an den Eingang des Saales.
Dieser Raum war alles andere als die Umkleide eines Sportvereins, sondern ein Prunksaal mit einem Thron und prachtvollen Gemälden, die die Legende von König Artur erzählten. Von links oberhalb des Throns blickte Königin Victoria streng hinab auf den jungen Schweizer, der gut hundert Jahre nach ihrem Tod nun denselben Thron besteigen würde.
Ich staunte nicht schlecht, denn hier wartete ebenfalls eine ganze Reihe von Würdenträgern, teilweise mit den Perücken des House of Lords. Auch Earl Amble war da, mit einer Prunkkette um den Hals, die ihn als den ehemaligen Lord Chamberlain des Hofstaates auswies.
Mr Grant wartete ebenfalls hier. Ich hatte gar nicht bemerkt, dass er im Tower gefehlt hatte.
„Es wurde beschlossen, dass Sie eine Krone tragen müssen“, erklärte er mir. „Die vorgezogene, verkürzte Krönungszeremonie findet gleich in der Royal Gallery statt, also in unmittelbarer Nähe zum Umkleideraum. Der Bischof von London wird Ihnen, um es etwas salopp zu formulieren, diesen kleinen Vorschuss auf die Krönung geben. Dafür muss Mr McTombreck, ich meinte, der Prince Consort, drei Schritte hinter Ihnen gehen und neben dem Thron stehend der Zeremonie beiwohnen. Er darf sich somit nicht auf den Thron des Monarchengatten setzen. Bei künftigen, rein weltlichen Parlamentseröffnungen wird man darüber reden können, doch jetzt …“ Er hob kurz verlegen seine Hornbrille. „Das ganze House of Commons muss stehen oder zeitweise knien. Ich bitte Sie …“
„… keine Schwierigkeiten zu machen. Einverstanden!“
Es gab keine Wahl. Eine andere Antwort hätte einen unglaublichen Skandal ausgelöst. Grant suchte den Blickkontakt mit Cramer, der uns in den Umkleideraum gefolgt war, und gab ihm mit einem leichten Kopfnicken zu verstehen, dass ich keine Probleme machen würde. Cramer antwortete mit einer deutlichen Aufhellung seiner Miene und verließ den Umkleideraum. Soviel ich wusste, musste ich ihn später zusammen mit den Parlamentariern des Unterhauses ins Oberhaus rufen.
Ein älterer Herr mit Glatze und übertrieben prächtigem rotem Schnurrbart und ebenso roter, hochdekorierter Uniform trug in gemessenen Schritten auf einem Kissen eine Krone aus Gold und funkelnden
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