Ploetzlich Shakespeare
stockte wieder. Die Schuld schien ihn zu überwältigen. Ich wollte ihn nicht mit Fragen bedrängen und wartete, bis er weiterredete.
«... ich spürte in mir Zorn...»
«Zorn?» Jetzt fragte ich doch nach, und es sprudelte aus ihm heraus:
«... weil Anne mir nicht vertraut hatte, dafür jedoch ihrem Cousin, ja, gar den Huren, bei denen ich angeblich lag, allen hatte sie mehr geglaubt als mir...»
Seine Stimme, die eigentlich die meine war, wurde nun ganz leise:
«Und ... als sie für diesen Zornesaugenblick, der nur die Länge eines Wimpernschlags andauerte, die Wut in meinen Augen lodern sah...»
Er musste nichts mehr sagen. Dass Anne daraufhin gesprungen war, ergänzte ich in Gedanken selber. Nach einer Weile des Schweigens versuchte ich ihn zu trösten: «Aber sie wäre bestimmt auch gesprungen, wenn du nicht so geschaut hättest, so durcheinander, wie sie war.»
«Das mag schon sein...» Die Stimme versagte mir erneut.
«Aber...?»
«Aber das Letzte, was sie in ihrem Leben gesehen hat,... waren meine zornigen Augen...»
Shakespeare kämpfte nun regelrecht damit, nicht loszuweinen. Und da ich keine Worte fand, die seine schweren Gedanken mildern konnten, flüsterte ich ihm zu: «Es ist in Ordnung, du kannst ruhig weinen...»
«Als Mann lässt man seinen Tränen nicht freien Lauf», erwiderte ich mit hohlem Stolz.
«Erstens ist das eine selten dämliche Aussage, und zweitens bist du gerade kein Mann, sondern eine Frau.»
«Dies ist wohl wahr...»
«Also ist es jetzt völlig okay für dich zu weinen», munterte ich ihn auf. Shakespeare dachte darüber nach, dann nickte er bestätigend mit meinem Kopf und ließ den Tränen freien Lauf. Er tat mir leid, ich hätte ihn so gerne in die Arme genommen. Es war ein merkwürdiges Gefühl, den eigenen Körper beim Weinen mitzuerleben und selbst unbeteiligt zu sein. So merkte ich dabei zum Beispiel, dass ich beim Flennen klang wie eine angeschossene Baby-Robbe. Shakespeare brauchte eine ganze Weile, bis er sich wieder beruhigt hatte. Als er sich mit dem Ärmel meines Kleides die Tränen wegwischte, stellte er erstaunt fest:
«Weinen ist ja in der Tat befreiend...»
«Kann man jedem Mann nur empfehlen», lächelte ich.
«Aber möglichst nicht, wenn seine Kumpane in der Nähe sind», lächelte ich durch meine Tränen hindurch.
«Nein, natürlich nicht», erwiderte ich amüsiert und erklärte ihm nun, dass wir zu dem Hypnotiseur gehen sollten, damit dieser ihn hoffentlich in die Vergangenheit zurückpendeln könnte. Doch Shakespeare erwiderte entschlossen:
«Ich denke gar nicht daran.»
«Ähem ... was?», fragte ich unsicher.
«Ich werde hierbleiben.»
«Das ist doch ein Scherz?» Ich konnte es nicht fassen.
«Dies ist kein Scherz. Wenn Annes Seele hier lebt, will ich bei ihr sein. Und deswegen mache ich mich auf die Suche nach ihr!»
«Du willst mir meinen Körper nicht wiedergeben?» Ich war völlig überrumpelt. Ich hatte Shakespeare zwar gerne und fühlte mich wohl mit ihm, womöglich begann ich sogar, Gefühle für ihn zu entwickeln. Aber ihm meinen Körper zu überlassen, das ging dann ja doch zu weit. Ich fragte ihn: «Dir ist schon klar, dass das komplett irre ist?»
« Wer liebt, ist nun mal verrückter als ein Mann, der in Luton-on-Hull aufgewachsen ist.»
«Luton-on-Hull?»
«Ein Dorf mit jahrhundertealter Inzuchttradition.»
«Es ist aber nicht nur irre, in meinem Körper zu bleiben, sondern auch im höchsten Maße unfair», protestierte ich jetzt lautstark.
«Wenn das Leben mit einem Male fair wäre, würde es einen wahrlich überraschen», hielt ich dagegen.
«Ich meine nicht nur gegenüber mir.»
« Gegenüber wem denn noch?»
«Auch gegenüber deinen Kindern. Willst du sie wirklich alleine lassen?», fragte ich eindringlich. Shakespeare schwieg daraufhin, atmete nach einer Weile tief durch und erklärte dann mit trauriger, würdevoller Stimme:
«Lass uns zu dem Mann mit dem Pendel gehen.»
Der Hypnotiseur war extrem überrascht, als ihm Shakespeare von unserem Dilemma berichtete. Nach der ersten Verwirrung erklärte Prospero, dass der Alchemist Dee völlig recht gehabt hatte, in Ausnahmefällen konnte es zu Schwierigkeiten bei den Reisen in die Vergangenheit kommen. Aber dass so etwas auch bei der Rückreise auftritt und ein Geist aus der Vergangenheit in die Zukunft wandert, war ein absolut neues Phänomen. Dies konnte nur geschehen, so tadelte Prospero mich scharf - er wusste ja, dass ich ihm in den Tiefen meines
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