Poison (German Edition)
Unterschied zwischen uns beiden, zwischen Proletariat und Bourgeoisie.
»Kann ich Ihnen helfen?«, fragt er mit misstrauischem Unterton in der Stimme. In Gedanken schmunzele ich. »Egalité, Fraternité, Liberté«, sage ich, Gleichheit, Brüderlichkeit, Freiheit, die drei Schlagworte der Französischen Revolution – obwohl ich eigentlich nur daran gedacht habe. Bevor er begreift, was ich damit meine, beeile ich mich, seine Verwirrung einzuholen und sage, dass ich zu »Shahin« möchte. Er blickt noch verständnisloser, aber das Mädchen scheint zu wissen, wen ich meine.
»Er möchte zu ihm«, lächelt sie und wirft ihrem Begleiter einen vielsagenden Blick zu, deutet mit ihrem Zeigefinger nach oben, in eine imaginäre obere Wohnung. Er begreift, grinst schief, wünscht mir viel Spaß und hält mir die Tür auf. Ich gehe in den Hausflur, mache sorgfältig die Tür hinter mir zu und atme erstmal tief durch, schaue mich um. Es ist sauber, riecht nach Bohnerwachs, die Holztreppen glänzen und – zumindest im Erdgeschoss stehen überall Blumen. Die Briefkästen sind leer, auch seiner, und es ist trotz des warmen Wetters kühl und leise im Haus – es gefällt mir sofort.
Wie ich so in meinen Betrachtungen stehe, geht halb rechts neben mir die einzige Wohnungstür auf und eine alte Frau in geblümtem Kleid mit blauer Schürze steht darin.
»Guten Tag«, sagt sie und schaut mich nicht unfreundlich an. »Sie brauchen gar nicht hoch zu gehen«, sagt sie, »Herr El Houssaine ist nicht da.«
Ich muss sie vermutlich angestarrt haben wie ein Eichhörnchen, denn sie lächelt und fährt fort: »Ich habe Ihr Gespräch vor der Tür aus der Küche mitgehört, als ich mir Kaffee gekocht habe – ach ja, Kaffee, wollen Sie auch einen?« Sie tritt beiseite und macht die Tür ein Stück weiter auf.
»Danke«, sage ich und möchte, ganz smarter Geschäftsmann, ablehnen, doch eine andere Stimme in mir sagt »Ja«, und ich muss schon wieder den Drang unterdrücken, wegzulaufen, zu flüchten, obwohl ER gar nicht da ist, weswegen ich mich überwinde, ihr freundlich zulächele und in ihre Wohnung trete, ganz gegen meine sonstige Art.
Sie nimmt mir – ganz im alten Stil meiner Tante – meinen Mantel ab und hängt ihn über einen Bügel an die Garderobe, führt mich in die Stube und geht in die Küche. Ich lasse meinen Blick über die Einrichtung schweifen und stelle fest, dass es eine ziemlich große Wohnung ist – die Alte hat hier mindestens 140 Quadratmeter, schätze ich, und alles ist ziemlich gut eingerichtet, wenngleich die Möbel mindestens fünfzig Jahre alt sind, aber die Oma ist ja auch nicht mehr die Jüngste. Und wie ich mich noch so umschaue und die Katze entdecke, die zusammengerollt auf der Fensterbank schläft, kommt die Oma wieder in die Stube, einen Wagen mit Tellern, Tassen, Kaffee und Kuchen vor sich herschiebend. Dann deckt sie den Tisch und setzt sich zu mir. Die Uhr an der Wand tickt leise, irgendwo spielt leise ein Radio – wahrscheinlich in der Küche – und die Oma packt mir gleich zwei Stück Kuchen auf den Teller und schenkt mir Kaffee ein.
Als ich protestieren will, lächelt sie nur und meint: »Junge Leute müssen essen. Ich habe so selten Besuch, da freue ich mich, wenn jemand mir hilft, meinen Kuchen aufzuessen. Ich bin übrigens die Frau Müller.« – »Mendelssohn«, stelle ich mich vor. – »Ah, Mendelssohn. Wie der Komponist, nicht wahr?«
Ich nicke höflich, kauend. Der Kuchen schmeckt wirklich gut, ich habe lange keinen so guten Kuchen mehr gegessen.
»Sind Sie ein Freund vom Herrn El Houssaine?«, fragt sie mich.
Ich räuspere mich. Soll ich ihr die Wahrheit sagen? Auf keinen Fall, vielleicht weiß sie ja nicht, dass er schwul ist, und ich habe ihn weiß Gott schon in genügend peinliche Situationen gebracht.
»Arbeitskollegen«, nuschele ich, »aber ich mache mir Sorgen um ihn.«
Sie lächelt großmütterlich, ich denke »wie eine Oma« und meint: »Es ist gut, wenn der Herr El Houssaine mal öfter Besuch bekommt.«
Ich nicke, trinke einen Schluck Kaffee.
»Er ist immer so alleine. Also, seit er hier wohnt, hat er kein einziges Mal Besuch gehabt, so wie ich das mitbekommen habe.«
Womit die Frage, ob er einen Freund hat, hinfällig ist.
»Ganz im Gegensatz zu den Studenten im ersten Stock«, sagt sie und schüttelt verständnislos den Kopf. »Den ganzen Tag Musik, abends rauchen sie auf dem Balkon, lachen, haben fast jeden Tag Besuch bis spät in die Nacht hinein, was ist der Herr
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