Poison (German Edition)
El Houssaine dagegen für ein guter Mensch. Stellen Sie sich einmal vor«, sagt sie und umfasst meine rechte Hand, »ich bin nicht mehr so gut zu Fuß, dass ich mit der U-Bahn in die Stadt fahren kann. Wenn ich etwas aus der Stadt brauche, rufe ich ihn einfach an, und er bringt mir es mit, wenn er einkauft. So ein netter Junge«, schwärmt sie. »Den muss man einfach lieb haben, finden Sie nicht auch?«, fährt sie fort und schaut mir dabei direkt in die Augen.
Ich verschlucke mich am Kaffee und muss husten. Habe ich mich verhört? Die Oma fährt im Plauderton fort: »Aber Sie haben schon recht, Herr Mendelssohn, wenn Sie sich Sorgen machen. Wenn der Mensch so oft alleine ist, tut das nicht gut. Und seit er nicht mehr an die Uni geht, ist er ja sowieso den ganzen Tag zuhause, und abends auch, wenn er nicht ausgeht. Ja ja, das ist der Gang der Jugend, wenn sie flügge wird, muss sie ausgehen, und sich mit den Mädchen oder den Jungs treffen.« – Ihr Satz, der mich jetzt zum Zweifeln bringt, ob ich nicht schon wieder einen Tagtraum habe und vielleicht immer noch im Hausflur stehe und vor mich hinstarre, wird von einem lauten Knattern und gelegentlichen Krachen unterbrochen, das von der Straße zu kommen scheint.
»Entschuldigen Sie mich, Herr Mendelssohn«, sagt die Oma, steht auf und schaut aus dem Fenster. »Das ist die Olga, dacht' ich mir es doch«, sagt sie dann halblaut, mehr zu sich. »Ich komme sofort wieder«, sagt sie mir und geht dann zur Tür, wo es kurz darauf klingelt. An der Tür eine Frauenstimme, von einer mindestens genauso alten Frau wie der, in deren Wohnzimmer ich gerade sitze und Kaffee trinke, wie ich gerade feststellen durfte, denn das Kneifen in meiner rechten Hand hat nur wehgetan, mich aber nicht in die vermeintliche Realität zurückgeholt.
Dann kommen die beiden alten Frauen ins Wohnzimmer, zuerst Frau Müller, zart, gebrechlich, weißhaarig, dann die andere, quadratisch, praktisch, gut, ich muss grinsen bei dem Gedanken an die Ritter-Sport-Werbung, deren Slogan genau auf diese ... uhm... sehr mütterliche Dame zutrifft, die trotz ihres hohen Alters – sie ist auch mindestens siebzig – immer noch sehr üppig gebaut ist – und wesentlich agiler scheint als Frau Müller.
»Die Olga hat einen Wagen«, beeilt sich »meine« Oma zu erklären, »deshalb kann sie öfter bei mir vorbeikommen als ich bei ihr.«
Aha. Interessant. »Wie dem auch sei«, sage ich verbindlich, denn jetzt wird das Ganze mir deutlich zu strange. »Ich muss jetzt leider gehen, die Geschäfte rufen. Danke für den Kaffee, Frau Müller, und für den guten Kuchen. Auf Wiedersehen.« – »Schade. Kommen Sie mich doch bald wieder besuchen, Herr Mendelssohn.« – »Ich finde schon raus«, sage ich noch, und dann gehe ich in Richtung Flur.
»Ein Arbeitskollege vom Herrn El Houssaine«, höre ich Frau Müller hinter mir zu der anderen alten Frau wispern. Die andere scheint zu nicken oder so etwas, jedenfalls höre ich, kurz bevor ich die Wohnungstür hinter mir zuziehe, »einen guten Geschmack hat der Junge« von Olga.
Im Hausflur atme ich noch einmal tief den Duft von altem gewachsten Holz ein, bevor ich das Haus verlasse, mich in meinen Jeep schwinge und die letzten paar Meter nach Hause fahre, mich umziehe, dabei feststelle, dass ich meinen Mantel bei der Oma »Am Park« vergessen habe – ein Grund, da noch mal hinzugehen, wenn mir danach ist und dabei »zufällig« mal bei ihm vorbeizuschauen und meinen Schreibtisch nach Visitenkarten von Kollegen durchforste, die ich alle in den nächsten Tagen mal anrufen möchte, ganz unverbindlich und zufällig versteht sich, vielleicht bietet mir ja einer völlig zufällig und ganz ohne Hintergedanken einen Job an. Den ich natürlich genau prüfen werde, bevor ich mich schweren Herzens entschließen werde, ihn anzunehmen. As if, aber trotzdem muss ich grinsen. Nach kurzer Suche finde ich immerhin drei Kärtchen, wenigstens ein Anfang.
Für die Branche ist es zum Anrufen zwar noch nicht zu spät, aber ich fühle mich trotzdem grad beschissen, das Kratzen im Hals ist wieder da, und ich schwanke für einen Moment, dem Drang nachzugeben, mich ins Bett zu legen und gründlich auszukurieren, und mich an den Computer zu setzen und das Internet nach Stellenanzeigen zu durchforsten. Ein drückender Kopfschmerz lässt mich den Mittelweg wählen, ich mache es mir auf der Couch bequem, decke mich zu und lege mir das Telefon und die Kärtchen griffbereit, doch noch bevor ich mich
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