Polar Star
eben hin, die Verwehungen bläulich aufschimmern zu lassen. Nach zehn Monaten auf See war es ihm, als stiege er geradewegs in den Himmel. Ein kalter Wind, der Vorbote des kommenden Winters, strich über Beerensträucher, Petersilie und Moos und entlockte der Landschaft erdigschwere Düfte. Auch Mike schien der Ausflug Spaß zu machen, gemächlichen Schrittes folgte er dem Schein seiner Taschenlampe.
Als der Pfad auf eine unbefestigte Straße traf, verdichtete sich der Nebel wieder. An manchen Stellen fiel der Hang nach beiden Seiten steil ab, und Arkadi konnte praktisch nur dadurch zwischen sicherem Halt und freier Luft unterscheiden, daß er sich am Klang der Brandung orientierte, die von unten gegen die Klippen schlug. Die Richtung stimmte, immerhin, soviel verhieß ihm das Feuer, das, wenn auch immer wieder von Nebelschwaden verdeckt, näher und heller brannte, wie die Fackel eines Leuchtturms.
Dann, nach nur wenigen Schritten, teilte sich plötzlich der Nebel und gab den Blick frei. Es war, als habe er die Oberfläche eines zweiten Ozeans mit einem weiteren Gebirgszug erklommen. Schwer und ruhig, wie weißer Schaum, lagerte der Nebel unter einem Nachthimmel, tief und klar wie das Universum. Die Berggipfel schwammen darin wie kleine Inseln, Zufluchtsorte aus purem schwarzen Gestein und sternfunkelndem, ewigem Eis.
Dort, wo das Feuer brannte, endete auch die Straße. Im Schein der Flammen erkannte Arkadi die Reste einer verlassenen Militärbasis: Erdwälle, von Gras überwuchert, verrostete Schießstände, wüst durcheinandergeworfenes Gerümpel, umzäunt von Stacheldraht. Inmitten des Durcheinanders loderte ein Scheiterhaufen aus Brettern, Sprungfedern, Ölkanistern und Autoreifen. Jenseits davon stemmte Mike eben eine schwere Tür auf, die in den Hang eingelassen war. Erst jetzt bemerkte Arkadi, daß Mike ein Gewehr bei sich trug.
Die Sterne schienen zum Greifen nahe. Der Kleine Bär war noch immer an den Polarstern gekettet. Orions Arm langte über den Horizont, als schleuderte er eine Handvoll Lichter ins All. Während der zehn Monate, die er nun schon auf dem Beringmeer verbrachte, hatte Arkadi noch keine so klare Nacht erlebt, und doch waren die Sterne immer dagewesen, gleich über dem Nebel.
Er ging um das Feuer herum auf die Tür zu. Es war eine Eisentür, eingefügt in einen Betonrahmen, der Eingang zu einem ehemaligen Bunker. Der Beton war an mehreren Stellen gerissen und außerdem mit Rostflecken übersät, und doch hatte er der Zeit wie auch der menschlichen Zerstörungswut getrotzt. Am Riegel hing ein neues Vorhängeschloß, ein Zeichen dafür, daß jemand den alten Bunker in Besitz genommen hatte; dank der frischgeölten Angeln war es ein leichtes, die Tür zu öffnen.
»Mike!« brüllte er.
Eine brennende Kerosinlampe stand auf dem Boden, und in ihrem Schein sah Arkadi, daß jemand sich nach besten Kräften bemüht hatte, den Bunker in eine Fischerhütte zu verwandeln. Ein Netz hing in kunstvollem Faltenwurf von der Decke. Die Wände säumten Regale, gefüllt mit Seesternen, Ohrschnecken und Haifischzähnen. Eine Pritsche stand davor, und Obstkisten, die als Bücherborde dienten, waren vollgestopft mit Taschenbüchern und zerlesenen Zeitschriften; in Fässern lagerte Altmaterial, hauptsächlich abgerissene Ankerschäkel und gespaltene Korken.
Als er das Gewehr auf dem Feldbett liegen sah, atmete Arkadi auf. »Mike?«
Auf einem Gestell, das die Mitte des Raums einnahm, prangte das größte Kajak, das Arkadi je gesehen hatte. Das Boot war mindestens sechs Meter lang, niedrig und schmal gebaut, mit zwei runden Luken, und obgleich es erst halb fertig war, erkannte man doch schon die ihm innewohnende Schnelligkeit und Anmut. Arkadi erinnerte sich an die Männerstimme auf einer von Sinas Kassetten, die ein Eingeborenenboot, eine Baidarka, beschrieben und davon geschwärmt hatte, mit einem solchen Gefährt um die Polar Star herumzupaddeln. Je aufmerksamer er das Boot betrachtete, desto mehr beeindruckte es ihn. Der hölzerne Kiel war mit Knochen und Gräten verfugt. Die Spanten waren gebogene Holzlatten, festgezurrt mit Sehnen. Im ganzen Boot konnte er keinen einzigen Nagel entdecken. Allein der Bootsmantel zeugte von einem Kompromiß mit der Moderne: Es war eine Umhüllung aus Fiberglas, mit Nylonfäden am Süll der hinteren Luke festgenäht und mit Klemmen gesichert. Auf einer Werkbank sah er ein Sortiment Schnitzmesser, Feilen, Segelnadeln und Zwirn, mehrere Malerpinsel, eine Gasmaske, einen
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