Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Polar Star

Polar Star

Titel: Polar Star
Autoren: Martin Cruz Smith
Vom Netzwerk:
hinausgeblickt hatte, während die Maschine durch eine Wolkendecke brach. Das Eis war stabil und so makellos weiß, wie Meereis wird, wenn die Kälte die Sole herausgefroren hat. Und es strahlte hell wie ein Spiegel, wenngleich er sich nicht darin sehen konnte, oder doch nur als luftdurchsetzte Dunstsilhouette, die im Eis festgefroren schien. Als er sich umsah, verlor das Schiff sich bereits im Nebel. Und es fällt raus aus seiner eigentlichen Umgebung, dachte Arkadi. Denn die Polar Star erschien auf einmal nicht mehr wie ein Schiff im Ozean, sondern glich einem grauen, vom Himmel gefallenen Keil.
    Zwei Kilometer in flottem Tempo. Zwanzig Minuten, vielleicht eine halbe Stunde. Wie viele Leute bekamen die Chance, übers Meer zu wandern?
    Ob Sina wohl aus den Wellen hochgeblickt hatte zu der schemenhaft aufragenden grauen Schiffsflanke? Er hatte es da doch wesentlich leichter; das Wasser war zu Eis gefroren und bildete einen alabasternen Pflastersteig. Als er sich wieder umwandte, war die Polar Star verschwunden.
    Er war immer noch auf einer Peilung von dreihundert Grad, obwohl die Kompaßnadel irritierend bald nach rechts, bald nach links pendelte. Hier, so nahe beim Pol, war der vertikale Sog so stark, daß es den Anschein hatte, als werde die Nadelspitze an unsichtbaren Fäden von einer Seite zur anderen gezogen. Aber es gab nichts anderes, woran er sich hätte orientieren können, kein Merkmal am Horizont, ja nicht einmal einen Horizont, keinen Spalt zwischen Eis und Nebel. In jeder Richtung, einschließlich oben und unten, bot sich ihm das gleiche Bild. Er war im Eisnebel eingeschlossen.
    Als erstes hatte er vor, die Schränke und Kabinen der Eagle zu durchsuchen, dann die Lagerräume und den Maschinenraum. Irgendwo mußte Sina gewesen sein.
    Martschuk hatte recht gehabt mit seiner Warnung vor Trugbildern. Vor sich sah Arkadi eine altmodische schwarze achtundsiebziger Vinylschallplatte, die sich, ganz allein und ohne einen Ton von sich zu geben, mitten im Eis drehte. Es war, als habe sein Verstand beschlossen, die gähnend weiße Leere mit dem ersten Gegenstand zu bestücken, den er seinem Gedächtnis entlocken konnte. Arkadi kontrollierte den Kompaßstand. Womöglich war er ja im Kreis gegangen. Im Nebel kam so etwas nicht selten vor. Einige Wissenschaftler behaupteten, Wanderer verirrten sich mitunter, weil ein Bein stärker sei als das andere, manche beriefen sich gar auf die Coriolis-Kraft und räumten dem Menschen gegenüber der Erdrotation nicht mehr Richtungskontrolle ein als Wind oder Wasser.
    Die Platte drehte sich rascher, je näher er ihr kam, fing dann an zu eiern und löste sich bei seinen letzten Schritten zitternd in einen unebenen Kreis teerschwarzen Wassers auf, dessen gezackter Eisrand rot war von getrocknetem Blut.
    Eisbären brachen mitunter durch das Atmungsloch einer Robbe, gerade, wenn sie zum Luftholen hochkam. Die Bären jagten bis zu zwei-, dreihundert Kilometer weit draußen auf dem Eis. Das Stampfen eines Eisbrechers verscheuchte sie in der Regel, aber die Polar Star machte keine Fahrt mehr. Arkadi hatte den Angriff nicht gehört, folglich mußte seitdem schon eine Weile vergangen sein. Andererseits führten weder Blut noch sonstige Spuren vom Loch weg. Der Bär hatte also seine Beute direkt mit runter ins Wasser genommen und war entweder noch nicht wieder aufgetaucht oder unter Wasser weiter zu einem anderen Loch geschwommen. Die zerfetzten, gesplitterten Eisränder ließen Arkadi an eine Explosion denken. Nach der Menge von Blut zu urteilen, die das Loch umgab, hätte man glauben können, auch die Robbe sei explodiert. Nur ein oder zwei Eisstücke tanzten auf dem dunklen Rund und gaben Zeugnis davon, daß das Wasser unter der Eisdecke nach wie vor in Bewegung war.
    Na, dachte Arkadi, wenn das nicht ein unerwartetes Ende für eine Untersuchung wäre: Ermittlungsbeamter von Bären getötet. Eine Premiere? Nein, nicht in Rußland. Ob die Robbe wohl sehr überrascht gewesen war? Er kannte dieses Gefühl. Er studierte noch einmal den Kompaß und setzte seinen Weg fort.
    Vor ihm ertönte ein scharfer Knall. Zuerst dachte er, es sei vielleicht der Bär, der durchs Eis bräche, dann kam ihm der Gedanke, daß sich die Eisdecke womöglich gespalten habe. Auf offenem Wasser konnte es sein, daß die Eisdecke, von Gezeiten und Strömungen gezogen, sich verlagerte, zerriß und wieder neu ausrichtete. Er fühlte sich dennoch nicht sonderlich bedroht. Wasser leitete Geräusche schneller und über
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher