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Polar Star

Polar Star

Titel: Polar Star Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Cruz Smith
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sich seiner Begriffsstutzigkeit.
    »Reiselust«, sagte sie.
    »Verstehe, genau wie bei mir.«
    »Aber Sie gehen in ausländischen Häfen nicht an Land. Sie bleiben auf dem Schiff.«
    »Ich bin eben ein Purist.«
    »Blödsinn! Sie haben ein Visum zweiter Klasse, das ist der Grund.«
    »Das kommt noch hinzu. Aber was schlimmer ist, ich hab nur eine zweitklassige Neugier. Ich war so zufrieden und ausgefüllt mit meiner Arbeit in der Fabrik, daß ich mich nicht genügend am gesellschaftlichen und kulturellen Leben an Bord beteiligt habe.«
    »Sie meinen die Tanzveranstaltungen.«
    »Genau. Es ist fast so, als sei ich überhaupt nicht hier gewesen. Ich weiß nichts von den Frauen oder von den Amerikanern - oder, um mich präziser auszudrücken, von Sina Patiaschwili.«
    »Sie war ein rechtschaffenes Mitglied der sowjetischen Arbeiterklasse, und sie wird uns allen sehr fehlen.«
    Arkadi machte den Schrank auf. Die Kleidungsstücke hingen nach Besitzerinnen geordnet auf den Bügeln: Dynkas Sachen, fast noch in Kindergröße, Madame Malsewas schlampige Kluft, Nataschas faltenreiche rote Abendrobe, ihre Strandkleider und Blusen in Pastelltönen. Von Dynkas Garderobe war er enttäuscht, denn er hatte farbenprächtige usbekische Stickereien erwartet oder Hosen aus Goldbrokat, doch alles, was er an Auffälligem entdecken konnte, war eine chinesische Jacke.
    »Sinas Kleider haben Sie schon abgeholt«, sagte Natascha.
    »Ja, war alles sehr ordentlich zusammengepackt.«
    Drei Schubladen enthielten Wäsche, Strümpfe, Halstücher, Medikamente; in Nataschas Fach fand er sogar einen Badeanzug. Die vierte Schublade war leer. Er betastete Rück- und Unterseite, um festzustellen, ob daran irgendwo etwas klebte.
    »Was suchen Sie eigentlich?« fragte Natascha streng.
    »Ich weiß nicht.«
    »Sie sind mir ein Ermittlungsbeamter.«
    Arkadi zog einen Spiegel aus der Tasche und kontrollierte damit die Unterseite von Waschbecken und Sitzbank.
    »Wollen Sie nicht auch gleich Fingerabdrücke nehmen?«
    »Das kommt später.« Er kontrollierte den Hohlraum unter den Kojen, indem er den Spiegel gegen die Bücher auf Sinas Matratze lehnte. »Was ich brauche, ist jemand, der mit der Mannschaft vertraut ist. Aber keinen Offizier und auch nicht jemanden wie mich.«
    »Ich bin Parteimitglied, aber kein Spion. Wenn Sie einen Schnüffler suchen, dann halten Sie sich an Typen wie Skiba und Slesko.«
    »Ich brauche einen Assistenten, keinen Spitzel.« Arkadi trat abermals vor den geöffneten Schrank. »In einer Kabine wie dieser gibt es nur eine begrenzte Anzahl von Verstecken.«
    »Verstecke? Wofür denn?«
    Er spürte, wie Natascha neben ihm nervös wurde. Ihm war, als hätte er das schon einmal bemerkt. Sie schien sich zu rekken, als er erneut ihre Schublade aufzog. Es war der Badeanzug, aber natürlich, ein grün-blauer Bikini, dessen Höschen sie nicht einmal bis über die Knie kriegen würde, der Bikini, den Sina mit der Sonnenbrille an jenem warmen Tag an Deck getragen hatte.
    Auf einem Schiff galt der gleiche Moralkodex wie im Gefängnis. Das schlimmste Verbrechen - abscheulicher noch als Mord - war Diebstahl. Andererseits war es nur natürlich, daß die Lebenden den Besitz eines Toten unter sich aufteilten. Dennoch, wenn herauskam, daß Natascha sich den Bikini heimlich angeeignet und versteckt hatte, dann würde sie das ihren geheiligten Parteiausweis kosten.
    »Ich wette, in Ihrer Kabine geht’s genauso zu wie in meiner«, sagte Arkadi. »Ständig borgt und verleiht man seine Sachen untereinander, stimmt’s? Manchmal fällt es schwer, noch zu unterscheiden, was ursprünglich wem gehört hat. Ich bin froh, daß wir dieses Ding gefunden haben.«
    »Er war für meine Nichte bestimmt.«
    »Verstehe.«
    Arkadi legte den Bikini aufs Bett. Im Spiegel konnte er sehen, daß Natascha den Blick fest auf den Schrank geheftet hielt. Zwar fand er den Trick mit dem Spiegel schamlos, doch er hatte weder die Zeit noch die Mittel für eine moralisch einwandfreie, systematisch exakte Untersuchung. Er trat wieder neben Natascha und ging noch einmal die Kleiderstange durch. Grob verallgemeinernd hätte man sagen können, daß die meisten russischen Frauen eine Metamorphose durchmachten, die sie mit einer rubensschen Körperfülle zum Schutz gegen den russischen Winter ausstattete. Sina war Georgierin gewesen, kam also aus dem Süden. Die einzige ihrer drei Kabinengenossinnen, der ihre Sachen gepaßt hätten, war die zierliche Dynka, und das einzige Kleidungsstück

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