Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Polar Star

Polar Star

Titel: Polar Star Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Cruz Smith
Vom Netzwerk:
Krankentrakt übergestreift hatte, mußte er sich mit allen Sinnen auf sein Tastgefühl konzentrieren. Als er ein kleines Loch in der Matratze weiter aufriß, fiel eine Kassette heraus. »Van Haien« stand auf dem Gehäuse. Er stöberte weiter in der Matratze herum und brachte drei weitere Kassetten sowie ein kleines russischenglisches Wörterbuch zum Vorschein. Beim Durchblättern sah er, daß einige Wörter mit Bleistift unterstrichen waren. Die Striche verrieten die anmaßende Naivität eines Schulmädchens, genau wie die Vokabeln, die alle mit Sex zu tun hatten.
    »Na, ist das der große Durchbruch?« fragte Natascha.
    »Noch nicht ganz.«
    »Ist es nicht Vorschrift, daß bei einer polizeilichen Durchsuchung immer zwei Zeugen anwesend sind?«
    »Es handelt sich hier nicht um eine offizielle Durchsuchung. Das ist reine Neugier meinerseits. Die Genossin Patiaschwili ist vielleicht einem Unfall zum Opfer gefallen, vielleicht auch nicht. Der Kapitän hat mich beauftragt, das herauszufinden.«
    »Ha!«
    »Genau meine Meinung. Ich war übrigens früher einmal Ermittlungsbeamter.«
    »In Moskau. Ich weiß Bescheid. Sie haben sich auf eine antisowjetische Intrige eingelassen.«
    »Nun, das ist eine Frage der Auslegung. Die Sache ist die, daß ich nun schon ein ganzes Jahr unten in diesem Schiff eingeschlossen bin. Natürlich war es mir eine Ehre, daran mitzuwirken, daß der große Sowjetmarkt mit Frischfisch beliefert wird.«
    »Wir verpflegen die Sowjetunion.«
    »Was für ein wunderbarer Slogan! Doch da ich auf diesen Ausnahmefall nicht vorbereitet war, habe ich meine Fachkenntnisse als Kriminalbeamter grob vernachlässigt. Ich bin gewissermaßen aus der Übung.«
    Natascha machte ein finsteres Gesicht, schien einen fremden Gegenstand zu mustern, von dem sie nicht recht wußte, wie damit umzugehen war. »Wenn der Kapitän Sie mit dieser Aufgabe betraut hat, dann sollten Sie alles daransetzen, sie erfolgreich zu lösen.«
    »Ja. Aber da ist noch eine Schwierigkeit, Natascha. Sie und ich, wir arbeiten doch zusammen in der Fabrik. Nun entsinne ich mich, daß Sie einmal die Meinung äußerten, ein paar der Männer dort unten seien nichts weiter als weichbäuchige Intellektuelle.«
    »Die könnten ihren eigenen Schwanz nicht finden, wenn er ihnen nicht angewachsen wäre.«
    »Danke. Sie selbst haben einen anderen Hintergrund!«
    »Das will ich meinen! Zwei Generationen meiner Familie haben am Aufbau neuer Wasserkraftwerke mitgewirkt. Meine Mutter war am oberen Bratsk-Damm, und ich war Brigadeleiterin in Botschugani.«
    »Und man hat Ihnen den Titel >Held der Arbeit< verliehen.«
    »Den Orden trage ich, jawohl.« Natascha nahm Komplimente mit ungerührter Miene entgegen.
    »Und Sie sind Parteimitglied?«
    »Eine Auszeichnung, auf die ich stolz bin.«
    »Trotzdem scheint mir, daß Ihre Intelligenz und Initiative unterschätzt werden.«
    Arkadi erinnerte sich an den Tag, an dem Kolja einen Finger in der Säge verloren hatte. Das Blut spritzte von seiner Hand über sein Gesicht, die Fische und alle Umstehenden. Da war es Natascha gewesen, die ohne Zögern ihr Kopftuch nahm und ihm damit die Hand abband. Dann sorgte sie dafür, daß er sich hinlegte, die Füße hochgelagert, und bewachte ihn mit Argusaugen, bis man eine Bahre brachte. Als sie ihn in den Krankentrakt schafften, kroch sie auf allen vieren über den Boden und suchte nach dem Finger, damit der Arzt ihn wieder annähen konnte.
    »Mir genügt die Wertschätzung der Partei. Warum wollten Sie, daß ich herunterkomme?«
    »Warum haben Sie Ihre Arbeit als Brigadeleiterin aufgegeben und putzen hier jetzt Fisch? Auf den Dämmen gibt’s doch doppelt soviel Lohn und auf manchen außerdem noch eine ArktikPrämie. Ganz zu schweigen von der frischen Luft.«
    Natascha verschränkte die Arme. Ihre Wangen hatten sich gerötet.
    Ein Mann! Natürlich. Zwar waren auch auf einer Baustelle die Männer in der Überzahl, aber nicht so extrem wie auf einem Schiff, wo mehr als zweihundert gesunde Männer monatelang mit vielleicht fünfzig Frauen zusammengesperrt waren, von denen die Hälfte ihre Großmütter hätten sein können, so daß für die restlichen Frauen ein Verhältnis von zehn zu eins blieb. Natascha flanierte dauernd in ihrem Trainingsanzug oder einem Mantel mit Fuchsbesatz übers Deck; und an Tagen, wenn das Wetter nur einigermaßen mild war, erschien sie in einem blumenbedruckten Strandkleid, das ihr Ähnlichkeit mit einer übergroßen Kamelie verlieh. Fast schämte Arkadi

Weitere Kostenlose Bücher