Polarfieber (German Edition)
öffnete. Draußen hantierte Issitoq mit dem Schlitten, der hinter dem Gespann mit den neun Hunden angebracht war. D a rauf war ein Gegenstand vertäut , den sie auf die Entfernung nicht erkennen konnte. Sie nahm die Felljacke vom Haken neben der Tür und ging zu ihm. Der Wind hatte wieder aufgefrischt. Trotz ihres guten Schutzes fingen ihre Augen sofort an zu tränen. Im Nähe r kommen erkannte sie, was er auf dem Schlitten transpo r tierte . Ein Rentier. Riesig, mit einem blutenden Loch mitten auf der Stirn. Die Zunge hing der armen Kreatur aus dem halb off e nen Maul. Der Duft von Blut und Eisen lag in der Luft, und wieder einmal rebellie r te ihr Magen. Es war nicht das erste tote Rentier, das sie sah, und doch regte sich Mitleid in ihr. Vor allem als Issitoq ein Jagdmesser aus seinem Gürtel holte und damit einen langen Schnitt an der Fla n ke des toten Tieres anbrachte. S o fort stieg Dampf aus dem Schnitt, floss Blut, rot glä n zend und schillernd, auf das weiß bestäubte Eis.
Kaya räusperte sich. „ Du hast gejagt? “
„ Mehr Glück als Jagd. Der Gute hier kam eben über das Eis, kaum, dass ich losgefahren war. Er löst euer Problem mit dem Pr o viant. “
Beide Hände des Jägers verschwanden im Bauch des Tieres. Kaya ahnte, was nun kommen würde, und biss die Zähne zusammen . Na t toralik hatte sich oft genug über sie lustig gemacht. Sie konnte alles essen , v on Wal über Walross bis hin zum gold i gen Lämmchen , a ber zu sehen, wie ein Tier ausgenommen wurde, drehte ihr den Magen um. Tief atmend kämpfte sie gegen Übe l keit.
„ Ich hole einen Topf “ , sagte sie.
Doch es war schon zu spät. Issitoq hatte in dem noch warmen Kadaver des Rentiers gefunden, wonach er suchte, und mit dem Messer die Leber aus dem Leib gelöst. Dunkel, fast schwarz war sie und so groß, dass Issitoq beide Hände benötigte, um das glibberige Ding zu halten .
„ Da, nimm das mit. Solange sie noch warm ist, ist sie besser als j e de Medizin, um deinem Mann wieder auf die Beine zu helfen. “
„ Der Topf “ , sagte sie schwach, wusste aber bereits, dass sie verl o ren hatte. Zögernd streckte sie die Hände aus. Das Gefühl von Fleisch auf Haut war genauso ekelhaft, wie sie es in Erinnerung ha t te. Aber Issitoq hatte r echt. Rentie r leber, vor allem , wenn sie frisch und roh war, war ein ausgezeic h neter Vitamin C - Lieferant.
„ Kommst du auch mit rein? “ , fragte sie, statt zu protesti e ren.
„ Nein. “ Er warf den Hunden einige Innereien zu , augenblic k lich machte sich die Meute darüber her. Der Lärm war ohrenb e täubend. „ Ich bring das Vieh nach Nuussuaq und schick e euch Hilfe. Bis ich zurückkomme, sollte euch die Leber über Wasser halten. Ein bis s chen Robbenspeck ist auch noch in der Truhe. “
Kaya wollte ihm danken, aber sie erinnerte sich an seine Reakt i on, als sie dies das letzte Mal versucht hatte. Nervös trat sie von einem Bein aufs andere. Warm und zäh bahnte sich Blut aus der Leber einen Weg zwischen ihre Finger. „ Sei vorsichtig. “
„ Die Leber wird kalt. “
Sie nickte und kehrte in die Hütte zurück . Silas war aufgewacht. T otenbleich lehnte er mit dem Rücken an der Holzwand.
„ Du bist wach “ , sagte sie und ließ die Leber in eine der Schü s seln neben dem Waschbecken gleiten. Sie verbot sich den Impuls, die blutigen Hände an der geliehenen Hose abzuwischen, griff nach dem Taschenmesser und ging zu Silas.
„ Was ist das? “ Der Ekel, den sie verspürte, war auch in seiner Stimme zu hören.
„ Rentierleber. “
„ Hast du die mit bloßen Händen einem lebenden Tier aus dem Leib gerissen? “
„ Dir geht es ja wieder besser. “
Er stutzte, wand te den Blick aber nicht von der dampfenden Leber in der Schüssel ab. „ Wie meinst du das? “
„ Du redest schon wieder Unsinn. “
„ Unsinn? “
„ Unsinn. “ Mit dem Messer schnitt sie ein Stückchen Fleisch ab und hielt es an seine Lippen. „ Iss. “
„ Ich soll das essen? Roh? “
„ Das ist die Rache für die Astronautennahrung. “ Sie hob die Schultern.
„ Das Fleisch lebt noch “ , begehrte er auf, schwieg aber, als sie ihn mit einem strengen Blick bedachte.
„ Mann oder Memme? “
„ Memme, wenn du so fragst. “
Wieder zuckte sie mit den Schultern. Statt ihn weiter zu bedrä n gen , führte sie die Finger mit dem Fleisch zu ihren Lippen . Der G e schmack nach Wild und Blut und Tod trieb ihr den Speichel in den Mund. Sie hasste Leber. Hatte sie noch nie gemocht,
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