Polaris
darum rang, ob er uns erzählen sollte, was er wirklich dachte. »Nein«, antwortete er schließlich. »Aus ihrem Blickwinkel gibt es, ganz gleich, wer auch in diesem Grab liegt, ganz einfach niemanden, den sie bestrafen könnten. Wozu sollen sie sich also die Mühe machen?«
VIERZEHN
Die Leute sollten nur dann sterben, wenn sie von Brücken stürzen. Oder mit den Haien schwimmen. Niemandem sollte einfach das Licht ausgeschaltet werden, nur weil eine Uhr, die sich in seinen Zellen versteckt, Mitternacht geläutet hat. Wir scheinen der Auffassung zu sein, dass es, wenn die Natur verfügt hat, Selbstzerstörung zu begehen, irgendwie verschroben wäre, etwas dagegen zu unternehmen, und dass wir folglich zufrieden ins Gab zu steigen hätten. Was mich betrifft, so suche ich nach einer alternativen Route.
Thomas Dunninger,
Das Recht zu leben
Die Natur interessiert sich lediglich dafür, dass Sie sich reproduzieren und Nachwuchs hinterlassen. Wenn Sie damit fertig sind, geben Sie gefälligst den Weg frei.
Charmon Colm,
Chaos und Symmetrie
Alex sprach davon, ihn selbst auszugraben. Ich weiß nicht, wie ernst er das meinte, aber ich wies ihn darauf hin, dass die Störung der Totenruhe hart bestraft wurde. Und ich war nicht einmal sicher, was es uns helfen sollte, würden wir tatsächlich herausfinden, wer dort begraben war. Das alles war nur ein Ratespiel, und sogar Alex gab das zu. Und er ließ die Idee endgültig fallen, als ich anfing, Mutmaßungen darüber anzustellen, wie die Schlagzeilen wohl ausfallen würden.
ANTIQUITÄTENHÄNDLER ALS GRABRÄUBER ENTTARNT.
BENEDICT WEGEN STÖRUNG DER TOTENRUHE ANGEKLAGT.
Als wir in dem Gleiter an der Friedhofsgrenze saßen und zusahen, wie der Mond über den Himmel wanderte, schweiften meine Gedanken zu Tom Dunninger, der davon geträumt hatte, Friedhöfe abschaffen zu können. Oder zumindest den Bedarf an Friedhofsflächen deutlich zu vermindern.
Wir beschlossen, in Walpurgis zu übernachten. Die meisten Restaurants und Hotels waren außerhalb der Saison geschlossen, aber wir ergatterten eine Suite im Fiesta, von der aus wir den Ozean sehen konnten, und aßen im Speisesaal, der den wenig verlockenden Namen Monk’s trug. Aber das Essen war gut, und es speisten noch andere Gäste hier, sodass wir nicht vollkommen allein waren.
Ich erinnere mich nicht, worüber wir gesprochen haben. Aber ich erinnere mich, dass ich immer wieder an das Grab denken musste und mich fragte, ob es ein Unfall gewesen war oder ein Verbrechen aus Leidenschaft. Oder ob es um etwas ganz anderes gegangen war: Hatte es womöglich jemand für notwendig oder vielleicht auch nur für zweckdienlich erachtet, Ed Crisp umzubringen? Hatte er etwas gewusst?
Ich konnte nicht recht schlafen. Mitten in der Nacht stand ich auf und bereitete mir einen Snack zu. Der Himmel war voller dünner Wolkenstreifen, die den Mond mit einem Lichthof umgaben. Aus Gründen, die ich nicht verstand, vielleicht abgesehen davon, dass ich ihn mit Friedhöfen assoziierte, rief ich den Avatar Tom Dunningers auf, der sich mitten im Raum materialisierte und Hallo sagte. Er war groß, dunkelhäutig, hatte weißes Haar und trug eine düstere Miene zur Schau. Er sah ganz sicher nicht wie eine Person aus, die gern lachte.
Ich hatte es mir mit einem Donut und einem Kaffee auf der Couch bequem gemacht. »Was kann ich für Sie tun, Chase?«, fragte er. Mit der Bügelfaltenhose, der blauen Jacke und dem weißen Hemd mit Krawatte war er stilsicher gekleidet.
Die letzte Aktualisierung des Avatars hatte 1364 stattgefunden, ein volles Jahr vor dem Flug der Polaris. Dies war ein Dunninger, dessen Gesicht vom Alter gezeichnet war. Seine Knie schienen ihm Probleme zu bereiten, und er verzog schmerzgeplagt das Gesicht, als er sich setzte.
»Können wir uns einfach ein bisschen unterhalten, Professor?«
»Meine Zeit gehört Ihnen«, sagte er. Dann sah er sich im Zimmer um. »Ein Hotel?«
»Ja.«
»Wo sind wir?«
»Walpurgis.«
»Ach, ja, dieser Urlaubsort. Wissen Sie, ich glaube, ich habe niemals Urlaub gemacht. In meinem ganzen Erwachsenenleben nicht.«
»Hatten Sie keine Zeit?«
»Ich hatte kein Interesse.« Er lächelte. »Ich glaube nicht, dass ich mich an einem dieser Orte hätte amüsieren können.«
»Vermutlich nicht«, stimmte ich ihm zu. »Professor, Sie haben in Ihrem Leben eine Menge erreicht, aber Sie sind vor allem für Ihre Suche nach lebensverlängernden Mitteln bekannt.«
»Nett, dass Sie sagen,
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