Polaris
irgendetwas entdeckt, womit Sie nicht gerechnet hatten?«, fragte ich. »Irgendetwas Außergewöhnliches?«
»Nein. Nichts. Ihre Kleidung war noch da. Zahnbürsten. Schuhe. Ich meine, es sah aus, als wären sie alle nur für eine Minute vor die Tür gegangen.« Er beugte sich über den Tisch. Seine Augen waren dunkelbraun und musterten mich mit einem brennenden Blick. »Ich will Ihnen was verraten, Chase: Das alles ist schon sehr lange her, aber es macht mir immer noch Angst. Das ist die einzige wirklich unheimliche Geschichte, die mir in meinem Leben begegnet ist. Aber ich frage mich noch heute, ob die Gesetze der Physik vielleicht doch nicht immer anwendbar sind.«
Georg sah aus wie ein Mann, der gern aß; aber an seinem Sandwich knabberte er nur dann und wann. »Wir haben Wochen in diesem Schiff zugebracht. Wir haben es weitgehend auseinander genommen. Haben alles rausgeholt, etikettiert und ins Labor geschickt, und das Labor hat nichts gefunden, was die Untersuchung hätte voranbringen können. Am Ende haben sie das ganze Zeug in irgendeinen Tresor gesperrt. Später ist die Trendelkommission gekommen und hat alles noch einmal durchsucht. Da war ich auch wieder dabei.«
»Bitte, verstehen Sie mich nicht falsch, aber wie gründlich sind Sie vorgegangen?«
»Ich war nur ein Techniker. Frisch von der Schule. Aber ich dachte, wir wären sehr gründlich gewesen. Die Kommission hat Außenstehende hinzugezogen, damit niemand behaupten konnte, irgendetwas wäre vertuscht worden. Ich kannte eine der Personen, die sie hinzugezogen haben: Amanda Deliberté. Ist früh gestorben. Bei der Entbindung ihres Kindes. Können Sie sich das vorstellen? Sie ist die einzige Frau, die im letzten halben Jahrhundert bei der Geburt eines Kindes gestorben ist. Wie dem auch sei, Amanda war nicht der Mensch, der nutzlos seine Zeit verschwendet, aber sie und ihre Kollegen haben auch nicht mehr gefunden als wir. Ich sage Ihnen, da war nichts zu finden, Chase. Was auch immer diesen Leuten zugestoßen sein mag, es ist sehr schnell geschehen. Ich meine, es muss sehr schnell passiert sein, nicht wahr? Maddy hatte nicht einmal genug Zeit, einen Code White abzusetzen. Kein Mucks. Die Leute reden über irgendwelche Alien-Dingsdas, aber wie zum Teufel hätten die reinkommen sollen, noch bevor sie einen Alarm ausgelöst hat?« Er probierte seinen Drink und sah mich über den Rand des Glases hinweg an. »Ich habe nie irgendeine Erklärung finden können. Sie waren einfach weg, und wir haben keine Ahnung, gar keine Ahnung, was aus ihnen geworden ist.«
Ich beobachtete ein Paar, das an der Wand saß und sich bemühte, ein launisches Gör zu beruhigen. »Ihr Team hat alles aus der Polaris entfernt?«
»Ja.«
»Wirklich alles?«
»Na ja, Armaturen und dergleichen haben wir dort gelassen.«
»Was ist mit Kleidern? Schmuck? Bücher? Ist irgendetwas in der Art an Bord geblieben?«
»Ja. Ich bin überzeugt, wir haben auch davon etwas zurückgelassen. Wir haben nach Dingen gesucht, die Licht auf das Geschehen hätten werfen können. Sehen Sie, Chase, das alles ist sehr lange her. Aber wir haben ganz sicher nichts von Bedeutung an Bord gelassen.«
NEUN
Das Verschwinden von Jess Taliaferro verkörperte mehr als nur den Verlust eines enorm kompetenten Verwaltungsangestellten. Vermutlich wäre es übertrieben, ihn als großen Mann zu bezeichnen; aber er war die Art von Mensch, die hinter den Kulissen arbeitet, um große Männer (und Frauen) möglich zu machen. Wir neigten dazu, ihn zu übersehen, weil er nie ein politisches Amt angestrebt hat. Er hat nie eine große Auszeichnung errungen. Er ist nicht in den Nachrichtensendungen aufgetaucht, außer als er als Sprecher einer verdatterten Gesellschaft, genannt die Vermessung, bekannt geben musste, dass sieben Leute aus der Polaris ins Nichts verschwunden waren. Aber er war eine Inspiration und ein Bollwerk für all die unter uns, die sich ein besseres Leben und eine strahlendere Zukunft für jedermann wünschen.
Yan Quo,
Taliaferro: Der sanfte Krieger
Alex sagte mir, ich könne mir zum Ausgleich für die Reise am folgenden Tag freinehmen, aber am Nachmittag ging ich dennoch ins Büro. Als ich dort eintraf, stierte er auf diverse Monitore, die alle Informationen über Jess Taliaferro anzeigten.
Der ehemalige Direktor ist Gegenstand dreier wichtiger Biografien, und in Dutzenden von Geschichten über sein Zeitalter ist er wenigstens am Rande erwähnt worden. Ich hatte zu diesem Zeitpunkt
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