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Polarrot

Polarrot

Titel: Polarrot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patrick Tschan
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werden sollten. Eine gute Idee, wie Breiter anfügte, ließen sich doch auf diese Weise die Fabriken stärker an Gugy binden.
    De Mijouter dachte eine Woche über den Vorschlag nach und kam nach anfänglichen Bedenken zum Entschluss, solch ein Kleinstlabor zu entwickeln. Gegen Ende des Sommers war der Prototyp des Kleinstlabors fertig und Breiter durfte es in Begleitung eines Chemikers bei der Zeller Textilfabrik, die sinnigerweise der Familie de Mijouter gehörte, erstmals vorführen und ausprobieren. Die Resultate überzeugten und so produzierte man weitere Kleinstlabors, die Breiter immer weiter in die Tiefen Deutschlands zu den Textilzentren führten.
    Selbstverständlich wurde Breiters kometenhafter Aufstieg in der Firma nicht von allen gern gesehen. Gerüchte wurden über ihn verbreitet, er sei Jude, er habe gestohlen, er sei ein Heiratsschwindler, er sei ein Warmer und er sei eigentlich ein Toggenburger Ziegenhirt.
    De Mijouter selbst konfrontierte ihn mit den Gerüchten, wies ihn an, einen Ahnennachweis zu bringen und er solle den Sekretärinnen und Arbeiterinnen nicht an die Röcke. Breiter wehrte sich tapfer, beteuerte, dass er weder Jude sei noch den bei Gugy arbeitenden Frauen hinterhersteige. Dass er aus dem Toggenburg käme, stimme und jeder, der im Toggenburg aufwachse, würde als Bub sowohl Kühe wie Ziegen hüten. Und zudem wüsste er von keinem im Toggenburg, dass er Jude sei.
    Trotzdem, de Mijouter beharrte auf dem Ahnennachweis, zumal große Geschäfte in Deutschland auf sie zukämen und er hundertprozentig sicher sein müsse, dass in den Adern seines besten Mannes kein jüdisches Blut fließe.
    Am Abend setzte sich Breiter zur Witwe Hunziker auf die Terrasse, der Wurst-Käse-Salat mit der unwiderstehlichen Sauce aus Mayonnaise, Essig und scharfem Dijon-Senf sowie die gekühlte Flasche trockener Gewürztraminer standen bereit.
    „Als ich acht Jahre alt war, wurden wir Deutsche. Meine Schwester hieß bei demselben Lehrer von einem Tag auf den anderen nicht mehr Germaine, sondern Hermine, aus meinem Bruder Schampedisse wurde Hanspeter. Nur mich, Lina, konnten sie nicht eindeutschen, obwohl wir ja deutsch redeten und deutsch dachten, seit Napoleon mit ein wenig Französisch drin.
    ‚Ob Michel oder Giggel, Wagges bliibt Wagges‘, sagte mein Vater, blieb, tauschte unsere französischen Pässe gegen nigelnagelneue deutsche ein und aus Roger wurde Rüdiger und aus Marie Maria Hauser.
    Das war so ziemlich alles, was sich für mich als Kind änderte. Und es war schön, wieder einen Kaiser zu haben. So einen richtigen, stattlichen, mit Schnurrbart und Backenbart und nicht so ein mageres Bürschchen mit spitzem Schnauzer und Ziegenbärtchen.
    Aber man wird älter, nicht alt, aber älter, und je älter man wird, desto mehr merkt man, dass es nicht lustig ist, Deutsche zu sein. Für den Kaiser, für Vaterland, für die Kolonien, für den Schlauchapfel, die Pomeranze und die Apfelsine, gegen den Franzosen, gegen den Engländer, gegen den Russen, gegen den Neger und gegen die Schlitzaugen sowieso.
    Also musste ich überlegen, nicht lange, da ich sowieso das Gefühl hatte – und mein Gefühl gab mir ja Recht –, dass die Geschichte noch lange nicht gegessen ist und der Franzose das Elsass zurückwill und aus Hermine würde wieder Germaine, aus Hanspeter Schampedisse und aus Rüdiger Roger. So kam es ja auch. Für die war das Elsass wie eine Kolonie. Nach 1918 haben sie südfranzösische Beamte im Elsass eingesetzt und sie für die Zwangsversetzung mit einer Kolonialzulage abgespeist. Und weil der Franzose es sich wieder zurückgeholt hat, wird es sich auch der Deutsche wieder holen wollen und aus Germaine würde abermals Hermine und so weiter und so weiter.
    Also überlegte ich zu Ende und ging in die Schweiz, nach Basel, zuerst als Magd, dann als Dienstmädchen, wie es sich für unsereinen gehört. In der Schweiz bleibt wenigstens Germaine Germaine und Hermine Hermine.“
    Sie schenkte sich und Breiter Wein ein, schöpfte den Wurstsalat aus der Schüssel und verteilte ihn auf die beiden Teller, brach Brot und legte es neben die Schüssel.
    „Prost, Köbi“, sagte sie, „jetzt geht’s an die Moral.“
    „Wie meinen Sie das?“, erwiderte Breiter und nahm einen Schluck.
    „Lass mich weitererzählen. Die Familie, die mich anstellte, selbstverständlich zu einem Hungerlohn, war sehr reich und mächtig. Er war um die vierzig, groß und knorrig, mit riesigen Händen. Sie war klein, fett, stickte tagaus,

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