Polarrot
tagein, rief dreimal die Woche nach der Schneiderin und drangsalierte sie so lange, bis diese ihr eines Tages eine Nadel mit solcher Wucht in den Hintern stieß, dass ein Arzt kommen musste, um sie wieder herauszuziehen. Von diesem Tag an ward die Schneiderin in der Stadt zwar nicht mehr gesehen, aber ich glaube, der Mann der fetten Gans hatte seine helle Freude daran, genauso wie alle im Haus, vom Kutscher bis zur Köchin, vom Zweitmädchen bis zum Klavierlehrer und durch ihn die ganze Stadt.
Aber es kam, wie es kommen musste: Eines Tages fragte der Hausherr mich, ob ich ihm zu gewissen Diensten sein könnte, gegen Aufgeld, selbstverständlich.“
Breiter, der bis dahin, vertieft in die Herrlichkeit des Wurst-Käse-Salats, nur mit einem halben Ohr zugehört hatte, sah von seinem Teller auf und blickte ihr in die Augen.
„Und?“, fragte er verlegen.
„Und? Ich musste Hand anlegen, wenn er ‚Schlitz‘ sagte, und wenn er ‚Hose‘ sagte, musste ich ihn dazu gleichzeitig mit einem mit Schnitzereien verzierten, elfenbeinernen Ding hinten traktieren. So war dein ‚und‘, Köbeli.“
Breiter erschrak.
„Und weißt du, was er sagte, als ich und er fertig waren? Weißt du, was er sagte, in seinem arroganten, gespreizten Baseldeutsch?“
Breiter schüttelte den Kopf.
„Sie kenne wägruhmme, sie können wegräumen, dä verdammti Spitzgiggel.“
Breiter blieb der Wurst-Käse-Salat im Hals stecken.
„Aber weißt du was, Köbeli, dadurch wurde aus dem Linchen Lina, dadurch konnte sich das Aufgeld doch sehen lassen und in kurzer Zeit hatte ich ein hübsches Sümmchen zusammen und mein ewiges Schweigen kostete ihn auch nochmal eine Stange. Ich nahm mir eine kleine Mansarde, ein Loch über den Dächern der Stadt, aber mit Decke und Kohleofen, arbeitete mal hier, mal dort und ging auf die Frauenschule und wurde Schneiderin. Ich kam auf die Welt, und dies, mein lieber Köbeli, dies bist du gerade im Begriff zu tun. Gib die Milch runter, sonst wird aus dir niemals Jakob, geschweige denn Jacques.“
Breiter hatte keine Ahnung, wovon sie sprach und worauf sie hinauswollte.
„Was soll ich, die Milch runtergeben?“
„Gopferdammi, Köbeli, was wollen die von dir?“
„Dass ich kein Jude bin.“
„Und warum fragst du mich um Rat?“
„Weil ich nicht weiß, was ich damit anfangen soll.“
„Ja, findest du das gut, dass du kein Jude sein sollst?“
„Ich bin ja kein Jude, gopferdammi!“
„Aber du musst beweisen, dass du keine Jude bist.“
„Ja und?“
„Ja, warum fragst du mich dann?“
„Weil es komisch ist.“
Die Witwe Hunziker schüttelte den Kopf, nahm einen Bissen und spülte mit dem Gewürztraminer nach.
„Du bist wirklich noch ein Bubeli, Köbeli.“
„Aber es ist komisch“, erwiderte Breiter energisch.
„Ja, warum, Köbeli? Brauch deinen Kopf! Warum ist es komisch?“
„Weil, weil es egal sein sollte, ob ich Jude bin oder nicht.“
„Eben.“
Breiter schaute sie an, starrte in ihre Augen und hoffte, in ihnen eine Antwort zu finden.
„Aber Sie haben es auch gemacht!“
„Ja, ich habe es auch gemacht.“
„Eben.“
„Was wäre geschehen, wenn Sie es nicht gemacht hätten?“
„Was wäre wohl geschehen, Köbeli, was wohl?“
„Sie hätten wohl die Stadt wechseln müssen.“
„Ja, und in eine andere Stadt, ziemlich weit weg.“
„Sehr weit?“
„Zu weit!“
Breiter stocherte in seinem Wurst-Käse-Salat herum, schaute auf die Dachgiebel vis-à-vis hinauf, sah Raben auf den Kaminen sitzen, die ihr Gefieder putzten, solange, bis ein anderer kam, der den Kamin für seine Putzerei beschlagnahmte.
„Basel ist gut. Jetzt.“
„Eben, gopferdammi!“
„Hmm, und danach?“
„Danach habe ich Hunziker getroffen, meine Tochter Sophie bekommen, sie großgezogen und als sie nach Bern heiratete, habe ich sie weniger und weniger gesehen und seit Hunziker gestorben ist, praktisch nie mehr.“
„Warum?“
„Jakob, das ist eine andere Geschichte.“
Am anderen Tag schrieb Breiter einen Brief an seine Heimatgemeinde und bat um eine Bescheinigung, dass er kein Jude sei. Der brave Gemeindebeamte im hinteren Toggenburg konnte mit dieser Anfrage wenig anfangen und schrieb zurück, ob er denn nicht wisse, welchen Glaubens er sei.
Worauf ihm Breiter zurückschrieb, dass er sehr wohl wisse, dass er katholisch sei, aber dass er dies bestätigt haben wolle. Worauf ihm der Gemeindebeamte in genervtem Ton zurückschrieb und ihn an das Pfarrhaus von Nesslau verwies.
Das Pfarramt
Weitere Kostenlose Bücher